Die europäische Beschneidungsschlacht

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Noch bis vor kurzem war die Frage eines Verbots jüdischer Religionsriten vor allem Teil der politischen und öffentlichen Debatte in Europa. In Deutschland ist sie nun zu einer juristischen Angelegenheit geworden. Das Urteil des Kölner Landgerichts, Beschneidung als Körperverletzung zu werten, bringt nicht nur muslimischen und jüdischen Gemeinden in Deutschland gewichtige Probleme. Die Bundesregierung selbst und viele Bundestagsabgeordnete sind unglücklich darüber, dass ihr Land weltweit als Vorreiter wahrgenommen wird beim Verbot der Beschneidung. Zudem sind sie peinlich berührt von Assoziationen mit dem Hitler Regime, die jetzt aufkommen.

Am 9. Juli erschien der deutsche Botschafter in Israel, Andreas Michaelis, vor dem Knesset-Ausschuss für Einwanderungsfragen und Diaspora-Angelegenheiten und sprach über die Sache: Ein Arzt, der einen vierjährigen muslimischen Jungen beschnitten hatte, sei vor einer ersten gerichtlichen Instanz angeklagt worden, dem Jungen irreversiblen körperlichen Schaden zugefügt zu haben. Das Gericht befand ihn für schuldig, ohne eine Strafe zu verhängen. Das Kölner Landgericht hat diese Entscheidung aufrechterhalten.

Ausführlich erklärte der Botschafter, dass dieses Urteil kein Präzedenzfall sei. Eine landesweite einheitliche juristische Regelung könne nur das Bundesverfassungsgericht festsetzen. Zudem betonte Michaelis, dass die Bundesregierung in den Gerichtsentscheid nicht eingreifen könne. Eine Lösung zu finden, die das Recht der Eltern auf Beschneidung ihrer Kinder juristisch begründet, würde längere Zeit in Anspruch nehmen.

Der Botschafter zitierte den deutschen Bundesaussenminister Guido Westerwelle, dass Deutschland sein Image als weltoffener Staat nicht einschränken will.[1] Seither haben sich nach Kanzlerin Angela Merkel auch viele andere deutsche Politiker für die Knabenbeschneidung ausgesprochen. Ein Verbot würde Deutschland zur „Komiker-Nation“ machen, so Merkel.[2] Umfragen jedoch zeigen, dass die Mehrheit der Deutschen ein Beschneidungsverbot unterstützt. Christliche, muslimische und jüdische Organisationen in Deutschland haben sich alle gegen das Gerichtsurteil ausgesprochen.[3] Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland Dieter Graumann sagte, das Verbot würde jüdisches Leben in Deutschland unmöglich machen.[4] Rabbi Pinchas Goldschmidt, Oberrabbiner von Moskau und Präsident der europäischen Rabbinerkonferenz sagte, dies sei der schlimmste Angriff gegen Juden seit dem Holocaust.[5]

Zwischenzeitlich zieht der Gerichtsentscheid des Kölner Landesgericht Konsequenzen jenseits deutscher Grenzen nach sich. Nicht nur das jüdische Krankenhaus in Berlin, auch das Zürcher Kinderspital hat angekündigt, keine religiösen Beschneidungen mehr durchführen zu wollen. Spitäler in weiteren Schweizer Städten überdenken ähnliche Schritte.[6] Experten berichten dem Knesset Komitee, dass einige jüdische Beschneider aus dem Ausland nicht mehr zur Knabenbeschneidung nach Deutschland reisen.

Die Debatte um das Verbot der Beschneidung beschränkt sich längst nicht auf Deutschland. In Norwegen wird dieses Thema regelmässig diskutiert.[7] Kürzlich hat sich die Zentrumspartei, die zur Regierungskoalition gehört, für ein Verbot ausgesprochen.[8] Die führende norwegische Tageszeitung Aftenposten machte auf eine dänische Studie aufmerksam, der zufolge Beschneidung die sexuelle Funktionstüchtigkeit negativ beeinflussen würde.[9] In den Niederlanden und Grossbritannien wird das Thema häufig in den Medien diskutiert.

Zwar wird versucht, die Beschneidung als eine rein medizinische Angelegenheit darzustellen; doch es wäre naiv zu glauben, dies sei die einzige Motivation der Verbots-Befürworter. Ein militanter Säkularismus und eine weit verbreitete antireligiöse Stimmung spielen eine wichtige Rolle. Womöglich sind die „Humanisten“, die an vorderster Front der Prohibitionisten stehen, eine neo-pagane Reinkarnation der hellenistischen und römischen Beschneidungsgegner?

Viele Angriffe auf die Beschneidung werden auch genährt durch eine antimuslimische Stimmung. Wäre das nicht so, würde sich der Fokus bei der Frage elterlichen Verhaltens ihren Kindern gegenüber hauptsächlich auf den vielen irreversiblen Traumata liegen, die sie ihnen durch andere Zwänge und Verhalten zufügen. Antisemitismus kann eine Rolle spielen, doch die Schikane der Juden ist eher ein Kollateralschaden, der aus dem Wunsch entstanden ist, die muslimische Bevölkerung zu verletzten.

Dennoch wäre es falsch, die Angriffe auf die Beschneidung als singulär abzutun. In Europa stehen jüdische Rituale unter Dauerangriff, oftmals als Folge von Angriffen auf muslimische Rituale. Bisher stand die rituelle Schächtung von Tieren ohne Betäubung im Zentrum der Kritik. Es gab immer wieder einmal Stimmen, die auch ewige Friedhöfe verbieten wollen.[10] Ein Präzedenzfall in Grossbritannien zwingt eine jüdische Schule, Schüler aufzunehmen, die nach jüdischem Recht nicht als jüdisch gelten.[11]

Das Schächtungsritual ohne Betäubung führte in den Niederlanden zu einem länger anhaltenden Kampf im Parlament und zog internationale Aufmerksamkeit auf sich. Letztendlich ist die Regierung mit den muslimischen und jüdischen Gemeinden zu einem Kompromiss gelangt. Die Wahlplattform der Freiheitspartei von Geert Wilders jedoch, die den Islam als Ideologie und nicht als Religion definiert, verlangt ein Verbot aller rituellen Schächtungen.[12]

Jüdische und muslimische Menschen können vielleicht von Glück reden, dass Deutschland das erste Land ist, in dem das Beschneidungsverbot juristisch diskutiert wird. Der wichtige Zustrom von Juden nach Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten gibt vielen Deutschen das Gefühl, dass die Demokratie funktioniert, trotz der Kriegsvergangenheit. Ein jüdischer Teil-Exodus wegen eines möglichen Beschneidungsverbots wäre daher für Deutschland wesentlich problematischer als für viele andere europäische Länder.

Dr. Manfred Gerstenfeld ist Mitglied des Aufsichtsrats des Jerusalem Center of Public Affairs, dessen Vorsitzender er 12 Jahre war.

 


[1] “Westerwelle kritisiert Urteil zu Beschneidungen,” Faz.net, 29 June 2012 [German].

[2] Umstrittene Rechtslage, “Kanzlerin warnt vor Beschneidungsverbot,” Spiegel, 16 July 2012 [German].

[3] Aufgezeichnet von Julia Nikschick und Marc Röhlig, “Du bist beschnitten, du bist ein Mann,”  Spiegel, 13 July 2012 [German].

[4] RZ-INTERVIEWmit Dieter Graumann: “Beschneidung muss legal bleiben,” Rhein-Zeitung, 19 July 2012 [German].

[5] Tony Paterson, “Circumcision ban is the ‘worst attack on Jews since Holocaust,” The Independent, 13 July 2012.

[6] “Stoppt auch das Kinderspital St. Gallen Beschneidungen?” Bernerzeitung, 20 July 2012, [German].

[7] Anne Lindboe, “Guttas Kropp – deres valg,”  Aftenposten, 17 July 2012. [Norwegian]

[8] Elisabeth Rodum & Jørgen Svarstad, “Senterpartiet vil forby rituell omskjæring av gutter,” Aftenposten,

13 June 2012. [Norwegian]

[9]“Omskårne menn og deres partnere får oftere sexproblemer,” Aftenposten, 18 July 2012. [Norwegian] Based on: “Morten Frisch, Morten Lindholm and Morten Grønbæk,

“Male circumcision and sexual function in men and women: a survey-based, cross-sectional study in Denmark,” International Journal of Epidemiology 201; 40:1367–1381.

[10] ”Israelitischer Gemeindebund fordert von CVP weitere Schritte,” NZZ Online, 6 December 2009. [German]

[11] Leslie Wagner, “Yet another defect in UK law,” Jerusalem Post, 16 December 2009.

[12] “De agenda van hoop en optimisme. Een tijd om te kiezen: PVV 2010-2015,” verkiezingsprogramma PVV 2010-2015, Partij voor de Vrijheid. [Dutch]