Bloomfield Hills, Michigan und Spring Lake, New Jersey. Wie tektonische Platten aufeinander wirken und wie sich an ihren Grenzen Druck aufbaut, ist ein komplexer Zusammenhang. Nach einem Erdbeben können wir nicht allein mit einem Blick auf den Riss in der Erdoberfläche vorhersagen, wann der nächste Riss auftreten wird – genauso wenig, wie wir den nächsten Ausbruch des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern, Juden und Arabern vorhersagen können.
Debbie Ford geht es um Transformation; sie ist Schriftstellerin und Coach und stellt im Februar 2009 zwei ihrer Studentinnen einander vor: Brenda, eine jüdisch-amerikanische Friedensaktivistin und ehemalige Führungskraft in der Modebranche, und Samia, eine arabische Amerikanerin mit libanesisch-muslimischem Hintergrund, Telekom-Unternehmerin und politische Aktivistin. Die sich verschlechternde Lage im Nahen Osten machte Brenda Sorgen; und Ford dachte, Samia wäre eine gute Partnerin für Brenda, um die Situation genauer anzuschauen.
Was Ford nicht vorhersah, war, dass ihre Studentinnen – trotz jahrelanger Berufstätigkeit und trotz eines gemeinsamen Interesses an der Beendigung des Konflikts – sich vor einer ideologischen Barriere fanden, die für viele unüberwindbar ist. Dass Brenda sich als jüdische Zionistin vorstellte, rief bei Samia –zu deren Selbstverständnis es gehört, propalästinensisch und leidenschaftlich antizionistisch zu sein – eine negative Reaktion hervor. Die Spannung, die daraus entstand, machte Brenda klar, dass der Begriff „zionistisch“ bei Samia mit Gedanken an eine expansionistische, terroristische Ideologie und der Ursache des israelisch-palästinensischen Konflikts verbunden ist. Samia wiederum erfuhr, dass für Brenda ihre jüdische Identität nicht zu trennen ist von ihrer zionistischen, und dass sie als solche ihre historische Verbindung zum Land Israel und zu allen jüdischen Menschen wie auch Ausdruck ihrer jüdischen Werte ist: Leben, Freiheit, Gerechtigkeit und Einheit mit dem Universum.
Für die Spannung zwischen ihnen hatte das Thema ihres ersten Gesprächs gesorgt: der Holocaust. Samia, die ihre Grossmutter und Grosstante durch die israelischen Luftangriffe auf den südlichen Libanon im Jahr 1982 verloren hatte, fragte Brenda: „Warum können die Juden die Geschichte mit dem Holocaust nicht hinter sich lassen und mal weiter machen?“
Brenda, für die ihr Jüdisch-Sein nicht zu trennen ist von ihrer Furcht vor Vernichtung, fragte zurück: „Warum würdest du von mir verlangen, den Holocaust hinter mir zu lassen?“
Samia meinte: „Wegen der Schmerzen, die er verursacht hat und die er den Palästinensern und Arabern in der [Nahost-] Region weiterhin bereitet – für ein Verbrechen, das sie nicht begangen haben.“
An diesem Punkt enden die meisten Gespräche.
Menschliche Interaktionen in Konfliktsituationen sind wie Verwerfungslinien zwischen den tektonischen Platten. Wenn der Druck, den die Spannung erzeugt, unerträglich wird, ist die freigesetzte Energie wie ein Tsunami; sie ruft Massenhysterien hervor, stachelt zu Hass und Angst an, trennt Nationen und zerstört Gemeinschaften.
An diesem besonderen Punkt holte Brenda tief Luft und antwortete: „Es ist wichtig, sich an die menschliche Tragödie des Holocaust, den Tod von sechs Millionen Juden und von Millionen anderer, die von den Nazis vernichtet wurden, zu erinnern und die Tragödie als solche zu erkennen.“ Und sie fügte hinzu: „Wir müssen auch daran denken, dass fast eine Million Palästinenser zu Flüchtlingen wurden und fast eine Million Juden aus den arabischen Ländern vertrieben wurden. Wir dürfen niemals vergessen.“
Samia öffnete sich – und gab zur Antwort: „Also, wie können wir den Holocaust nutzen, so dass er dazu hilft, die Menschheit zu heilen und zukünftige Völkermorde zu verhindern, anstatt uns vom Holocaust benutzen zu lassen?“
Das war der Ausgangspunkt, erzählen Brenda und Samia: Wir wandten uns den heissen Themen zu, die unsere Gemeinschaften trennen – Zionismus, den Holocaust, Gaza, den Libanonkrieg, Jerusalem, Besatzung, Siedlungsbau, Selbstmordattentate, das Rückkehrrecht und die internationale Hilfsflottille nach Gaza – und benutzten sie, um uns den jeweiligen Wirklichkeiten zu stellen und um ein tieferes Verständnis für die andere Seite zu erlangen.
Wir sahen, wie wichtig es beispielsweise ist, den Tod der 70-jährigen Dora Shaklyan, die als Opfer des Holocaust in Teofipol in der Ukraine starb, in Verbindung zu bringen mit dem Tod von Samias 70-jähriger Grossmutter, Mariam Bahsoun, einem Opfer der israelischen Angriffe auf Tyros – dass es wichtig ist, diese beiden Tatsachen in Verbindung zu bringen, ohne sie miteinander zu vergleichen. Durch diese Verbindungen haben wir die Geschichte des Holocaust erweitert, und beide Erinnerungen gehören dazu.
Die Barrieren, die Israelis und Palästinenser, Juden und Araber trennen, sind nicht nur physisch – sie sind emotional aufgeladen und komplex; und werden weiter in die Höhe getrieben von aktuellen Ereignissen. Wir können diese Ereignisse nutzen, um die anderen zu dämonisieren, oder wir können unsere Aufmerksamkeit auf die Suche nach neuen gemeinsamen Lösungen verlagern.
Diese Erkenntnis hat uns inspiriert, und wir haben das Tectonic Leadership Center for Conflict Transformation and Cross Cultural Communication eingerichtet. Wir sehen seine Aufgabe darin, Führungskräfte auf den entgegengesetzten Seiten von Konflikten paarweise zu ermitteln und zusammen zu bringen, so dass sie gemeinsam die Verantwortung übernehmen, eine verwandelnde Kraft in diesen Konflikten zu entwickeln.
Beim Tectonic Leadership (TL)-Modell werden Dokumentarfilme wie etwa To Die in Jerusalem gezeigt, um Konfliktsituationen vorzustellen. Dann erleben die Teilnehmer durch Rollenspiele beide Erzählungen, und sie nutzen die Spannung im Umfeld spezifischer Konflikte, um tiefe Wahrheiten über ihr Leben, ihre Gedanken und Gefühle aufzudecken und eine gemeinsame, kongruente Identität zu eröffnen, ohne ihre Grundüberzeugungen preiszugeben.
Die beiden Verantwortlichen schaffen sich ein eigenes Gerüst – Disziplin und Verpflichtung –, um gleichermassen für sich selbst und andere zu sorgen, einander für verantwortlich zu halten und einander in beiden Gemeinschaften, besonders in Zeiten der Krise, zur Seite zu stehen.
Seit dem ersten Gespräch sind wir, Brenda und Samia, vor Kontroversen nicht verschont geblieben: Stellt ein nuklear ausgerüsteter Iran eine Bedrohung dar oder bietet er ein Gleichgewicht? Ist die Hisbollah eine terroristische Organisation oder eine Befreiungsarmee? Verbunden und engagiert treten wir gemeinsam in die Verwerfungslinie, erforschen sie unterhalb der Oberfläche, untersuchen die Spannung und nutzen sie, um unsere Gemeinschaften zu verbinden.
- Samia Moustapha Bahsoun und Brenda Naomi Rosenberg sind Mitbegründer des Tectonic Leadership Center for Conflict Transformation and Cross Cultural Communication, wwww.tectonicleadership.org.
Originalversion: Inside the fault line of the Israeli-Palestinian conflict by Samia Moustapha Bahsoun and Brenda Naomi Rosenberg © Common Ground News Service (CGNews) www.commongroundsnews.com , 19 June 2012. Deutsche Übersetzung © Audiatur-Online.