Die europäische Krise: Alle Augen ruhen auf Deutschland

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Europäische Zentralbank, Foto Eric Chan
Europäische Zentralbank, Foto Eric Chan
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„Man mache sich keine Illusionen. Europa steht heute am Abgrund und wird in eben diesen in den kommenden Monaten hineinfallen, wenn jetzt nicht Deutschland und Frankreich gemeinsam das Steuer herumreissen und den Mut zu einer Fiskalunion und politischen Union der Euro-Gruppe aufbringen.“ Dies ist, was der extrem proeuropäische ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer Anfang dieses Monats schrieb. Er fügte hinzu: „Europa, angeführt von Deutschland, löscht lieber weiter mit Kerosin statt mit Wasser, und der Brand wird so mit der von Merkel erzwungenen Austeritätspolitik beschleunigt … Es wäre eine Tragödie und Ironie zugleich, wenn jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das wiedervereinigte Deutschland, diesmal friedlich und mit den besten Absichten, die europäische Ordnung ein drittes Mal zugrunde richten würde.“[1]

Fischers Artikel ist nur ein Beispiel für ein überraschendes neues Gebiet der europäischen Einheit: „das vereinte Europa der Sorge und Angst“. Es resultiert aus dem Euro-Monster, das sich gegen seine Schöpfer erhoben hat. Vor zwei Jahren kannten die meisten europäischen Börsenmakler nicht einmal die Namen der beiden politischen Parteien, die in den vergangenen Jahrzehnten Griechenland abwechselnd regiert haben. Man wäre als geisteskrank erklärt worden, hätte man prognostiziert, dass das Steigen und Fallen der europäischen Börsen davon abhängen werde, welche Partei in den griechischen Meinungsumfragen führt. Und doch ist genau das in den vergangenen Wochen  im Vorfeld der Parlamentswahlen vom 17. Juni Eingetreten.

Die wirtschaftlichen Probleme der Eurozone werden für eine lange Zeit bedeutend bleiben. Wenn ein Problem gelöst zu sein scheint, tritt mindestens ein weiteres auf. Wie Griechenland, Irland und Portugal, wird nun auch Spanien einen Kredit von seinen Partnern in der Eurozone erhalten. Der Betrag kann auf bis zu 100 Milliarden Euro ansteigen, um mehrere spanische Banken vor dem Konkurs zu retten. Zypern wird wenig Aufmerksamkeit aus dem Ausland zuteil, aber es ist so eng mit Griechenland verbunden, dass es vielleicht bald ebenfalls Kredite benötigen wird. Auf lange Sicht sind Italien und sogar Frankreich alles andere als sicher.

Trotz eines erheblichen Abzugs von Einlagen sind Griechenlands Banken nicht bankrottgegangen, weil sie von der Europäischen Zentralbank unterstützt werden. Die beste Option des Landes könnte sein, die Eurozone irgendwann in diesem Jahr zu verlassen und zur Drachme zurückzukehren. Doch auch dies kann es möglicherweise nicht vor dem Chaos retten. Dieses Jahr wird die Wirtschaft des Landes zum fünften Mal in Folge schrumpfen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 50 %. In einem pessimistischen Szenario kann sie, sollte es in Griechenland noch mehr Gewalt geben, sogar bis nach Brüssel überschwappen.

Die Wirtschaft der meisten anderen Länder der Eurozone stagniert oder schrumpft in diesem Jahr. Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in der Eurozone liegt bei 11 %. Sie könnte weiter ansteigen. In unsicheren Zeiten vergrössern Investoren weder ihre Unternehmen noch investieren sie viel Geld in neue Unterfangen. Falls Griechenland die Eurozone verlässt, werden wahrscheinlich noch mehr Menschen in anderen problematischen Ländern ihre Ersparnisse ins Ausland, vorzugsweise nach Deutschland, schicken.

In der aktuellen Situation richten sich alle Augen auf Deutschland. Es ist sowohl die grösste Volkswirtschaft Europas als auch das Land, das am meisten von der Einführung des Euro profitiert hat. Als Gegenleistung dafür, dass sie für andere mehr Geld zur Verfügung stellt, will Kanzlerin Angela Merkel eine grössere europäische Integration. Die ablehnenden Kräfte sowohl in Deutschland als auch im Ausland sind enorm. Man fragt sich, wie viel mehr das deutsche Volk bereit ist, die Stabilität ihres eigenen Landes für eine grössere europäische Einheit, die unerreichbar sein könnte, aufs Spiel zu setzen. In ganz Europa gibt es eine steigende Tendenz zur Europa-Skepsis und viele sind der Ansicht, dass die Schaffung des Euro ein grosser Fehler war. Sogar in den Niederlanden, einst ein starker Verfechter eines vereinten Europa, erhalten zwei Europa-kritische Parteien – die Sozialisten auf der äussersten Linken und die Partei für die Freiheit auf der äussersten Rechten – in den Umfragen für die Parlamentswahlen im September gleichbleibend zusammen mehr als ein Drittel der Stimmen.

Gerät die Eurozone ausser Kontrolle, ist kein Land sicher. Der britische Finanzminister George Osborne sagte, die Aussichten seines Landes auf eine wirtschaftliche Erholung würden durch die Krise in der Eurozone „abgetötet“.[2] US-Präsident Obama hält das heutige Europa für den kranken Mann der Weltwirtschaft. Er ist nicht nur über seine Auswirkungen auf die Vereinigten Staaten besorgt, sondern, falls Europa eine weltweite Wirtschaftskrise auslöst, verringern sich auch seine Chancen auf eine Wiederwahl.

Israel ist ein Nischenland. Mit seinen vielen mittelständischen Unternehmen und High-Tech-Exporteuren ist es weitaus flexibler als grosse Volkswirtschaften. Israel exportiert eine breite Palette von Produkten in viele Länder. Dennoch kann Israel in einer globalen Wirtschaftskrise nicht ungeschoren davonkommen, auch wenn es möglicherweise weniger anfällig ist als viele andere Länder. Nur ein Beispiel: Die Zahl der Touristen könnte deutlich sinken. Ein weiteres: Wenn sich Israels wichtigste Kunden in der Wirtschaftskrise befinden, werden sie auch weniger kaufen. Diejenigen, die in den Strassen der israelischen Städte – zum Teil zu Recht – für mehr soziale Gerechtigkeit demonstrieren, werden in fünf Jahren vielleicht ganz glücklich sein, wenn sie dann nicht wirtschaftlich schlechter dran sind als heute.

Dr. Manfred Gerstenfeld ist Vorstandsmitglied des Jerusalem Center for Public Affairs.



[1] Ein Gastbeitrag von Joschka Fischer, „Europa steht in Flammen“, Süddeutsche, 4. Juni 2012.

[2] „George Osborne: Britain’s economic recovery being ‘killed’ by euro crisis“, Guardian 10. Juni 2012.

1 Kommentar

  1. "Ich glaube – und hoffe – auch, dass Politik und Wirtschaft in der Zukunft nicht mehr so wichtig sein werden wie in der Vergangenheit. Die Zeit wird kommen, wo die Mehrzahl unserer gegenwärtigen Kontroversen auf diesen Gebieten uns ebenso trivial oder bedeutungslos vorkommen werden wie die theologischen Debatten, an welche die besten Köpfe des Mittelalters ihre Kräfte verschwendeten. Politik und Wirtschaft befassen sich mit Macht und Wohlstand, und weder dem einen noch dem anderen sollte das Hauptinteresse oder gar das ausschließliche Interesse erwachsener, reifer Menschen gelten."

    Sir Arthur Charles Clarke (1917 – 2008)

    Wer die Volkswirtschaft verstehen will, muss "Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld" (Silvio Gesell, 1916) lesen; alles, was davon abweicht, ist Unsinn. Und wer nachvollziehen will, warum sich "Spitzenpolitiker" und "Wirtschaftsexperten" nur mit Unsinn beschäftigen und eine Menschheit, die bereits Raumfahrt betreibt, sich noch immer im zivilisatorischen Mittelalter befindet, muss zuerst die Religion verstehen:
    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2011/07/die-r

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