Der Aufstieg der Gaza-Hamas

0
Hamas Wahlplakat. Foto "Hoheit" . Lizenziert unter CC BY-SA 2.0 de über Wikimedia Commons.
Lesezeit: 5 Minuten

Die Hamas hat vor kurzem interne geheime Wahlen für das Gaza-Politbüro und den oft als Parlament der Bewegung bezeichneten Shura-Rat abgehalten. Mit der Geheimhaltung der Wahlen versucht die Hamas zu verhindern, dass die Aussenwelt Kenntnisse über die internen politischen Prozesse der Bewegung in Erfahrung bringt. Es ist jedoch klar geworden, dass die Wahlen der Gaza-Führung der Hamas einen klaren Sieg brachten, auf Kosten der ehemaligen externen Führungsriege um Khaled Mashal in Damaskus, die jetzt in der ganzen Region zerstreut ist.

Der Hamas-Ministerpräsident in Gaza Ismail Haniya ist nun Chef des Gaza-Politbüros und hat damit die wichtigste Position der Bewegung im Gazastreifen inne. Er ist der erste, der diesen Titel trägt, seit Abd al-Aziz Rantisi 2004 von Israel getötet wurde.

Der jüngste Sieg der Gaza-Führer könnte ein erster Schritt auf dem Weg zur Übernahme der Führung für die gesamte Hamas sein. Zwei Faktoren können für diesen Vorteil verantwortlich gemacht werden.

Erstens besitzen die Gaza-Führer Macht – ein wichtiger Faktor, der ihren Rivalen fehlt. Sie besitzen echte politische und administrative Macht über das Leben von 1.7 Millionen Einwohner von Gaza und das 365 Quadratmeter grosse Gebiet, auf dem sie leben. Zweitens haben die Umbrüche in der arabischen Welt und besonders der Bürgerkrieg in Syrien erheblich zur Schwächung der ehemaligen externen Führung in Damaskus beigetragen und damit zu Nachteilen im Wettbewerb mit den internen Führern in Gaza geführt.

Die Art und Weise, wie die Hamas ihrem Regime in Gaza Stärke und Dauerhaftigkeit  verliehen hat, ist im Westen nur unzureichend beachtet worden. Das mag politische Gründe habe: westliche Regierungen sehen die Notwendigkeit, die Fiktion des längst toten Friedensprozesses zwischen Israelis und Palästinensern am Leben zu halten. Dazu gehört wesentlich, dass die historische Spaltung zwischen palästinensischen Nationalisten und Islamisten nicht wirklich geschehen sei, oder dass es sich um eine kurzfristige Störung handelte, die aber Aussicht auf baldige Versöhnung hat. Dies anzunehmen, ist für die Anhänger des Friedensprozesses notwendig, weil es ihnen ermöglicht, die Palästinensische Autonomiebehörde PA im Westjordanland unter Mahmud Abbas als einzige Vertreterin der Palästinenser zu behandeln.

Aber – das ist eben Fiktion. Im zurückliegenden halben Jahrzehnt ist in Gaza ein islamistischer Ein-Parteien-Quasi-Staat entstanden. Seine Bedeutung und seine Zukunftsaussichten sind durch die Erfolge der Weggefährten der Hamas – Ableger der Muslimbruderschaft in Ägypten und anderenorts in der Region – erheblich gestärkt worden.

Im Gazastreifen hat die Hamas eine einzigartige, sunnitisch-islamistische Form einer autoritären Regierung etabliert. Mit Erfolg hat sie alle politischen Gegner ausgeschaltet. Sie hat ein Sicherheitssystem aufgebaut, in dem die Miliz der Bewegung, die Qassam-Brigaden, ihre Platz neben angeblich nicht-politischen Sicherheitskräften hat, die ihrerseits den Hamas-kontrollierten Ministerien unterstellt sind. Sie hat der ehemals PA-kontrollierten Justiz den Willen der Hamas auferlegt und gleichzeitig ein Parallelsystem islamischer Gerichtsbarkeit eingerichtet.

Im Ergebnis wird die Hamas-Kontrolle in Gaza von keiner Seite ernsthaft angefochten.

Diesem Zentrum echter Machtausübung gegenüber wurde die externe Hamas-Führung in den letzten Jahren zunehmend bedeutungsloser. Ihre Kontrolle ausländischer Kontakte hat sie vor völliger Irrelevanz gerettet; dadurch hat sie – allen voran über den Iran – die für das Überleben der Gaza-Enklave lebenswichtigen Gelder eingebracht. Dieses Geld hat auch den Fortbestand der Qassam-Brigaden gesichert; dadurch war die externe Führung vor einem Machtkampf von Gaza aus gefeit.

Dann kam der „arabische Frühling” nach Syrien, dem Standort der externen Führung. Die Hamas befand sich durch ihre Nähe zur Muslimbruderschaft in einem Dilemma. Die regionale Allianz unter der Führung des Irans, der sie angehörte, zerschlug einen Aufstand, der zumindest teilweise von Gefährten der Muslimbruderschaft in Syrien angeführt wurde.

Die Hamas traf eine Wahl – zugunsten der Muslimbruderschaft. In der Folge gingen die iranischen Gelder rasant zurück. Die externe Führung hat sich von Damaskus aus in viele Richtungen zerstreut: Mashal ist in Katar; Mousa Abu Marzook in Kairo; Imad Alami zurück im Gazastreifen. Einige Mitglieder sind sogar so weit wie bis Istanbul und Khartum gegangen.

Zwischenzeitlich hat die interne Führung ihre Einnahmen seit dem Fall von Mubarak in Ägypten durch die Schmuggel-Tunnel zwischen dem Sinai und Gaza erhöhen können. So konnte der Rückgang der iranischen Unterstützung kompensiert werden.

Berichten zufolge hat Mashal nicht länger die Kontrolle über das Budget der Bewegung und das der Qassam-Brigaden, auch wenn er die Position als allgemeiner Führer der Bewegung beibehält. Ausserdem hat die interne Führung einen Versuch Mashals für ein „Versöhnungs“-Abkommen mit der PA im Westjordanland im Februar verhindert. Ein solches Abkommen hätte der Hamas den Abbau ihrer Regierungsstruktur im Gazastreifen abverlangt.

Der palästinensische Nationalismus hat Worte und Gesten traditionell konkreten Taten vorgezogen. Das ist einer der Gründe für sein historisches Versagen, zu nennenswerten Ergebnissen zu gelangen. Der palästinensische Islamismus verfolgt einen anderen Ansatz: konform mit der traditionellen Strategie der Muslimbruderschaft versteht er die Bedeutung, mit Geduld vor Ort zu arbeiten.

Das heisst nicht, dass die Hamas im Gazastreifen die maximalistischen ideologischen Ziele der Bewegung aus den Augen verloren hätte oder sie vergessen wird. Es bedeutet jedoch, dass der Bruch in der palästinensischen Nationalbewegung endlich als langfristige Entwicklung zur Kenntnis genommen werden sollte. Das weitaus ernster zu nehmende und gefährlichere Element dieser Bewegung ist die Kontrolle über Gaza.

Der islamistische Ein-Parteien-Kleinststaat in Gaza ist ein Verbündeter des Trends, der den Nutzniesser der arabischen Aufstände 2011 zeigt – des sunnitischen Islamismus.

Falls die Muslimbruderschaft in Ägypten an die Macht kommen sollte, könnte der von der Hamas kontrollierte Gazastreifen als Reibungsfläche mit Israel eine strategische Bedeutung erlangen, die zu grösseren Spannungen führen könnte.

Originalversion: The Rise of Hamas-Gaza by Jonathan Spyer © GLORIA-Center, May 16, 2012.