Märtyrer vom Dienst

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Demonstration für Khader Adnan in Nilin am 17. Februar 2012. Foto PD
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Der gegenwärtig in Israel in Administrativhaft gehaltene Agent des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ), Khader Adnan, hat das Ende seines seit 66 Tage andauernden Hungerstreiks angekündigt; damit reagiert er auf die Zusage Israels, ihn am 17. April freizulassen. Seine erwartete Freilassung wirft ein moralisches Dilemma auf: Wenn es sich bei Adnan um eine Schlüsselfigur des PIJ im Westjordanland handelt und er verhaftet wurde, weil eine unmittelbare Gefahr für die Bürger Israels von ihm ausgeht: Ist es dann moralisch vertretbar, dass die israelischen Behörden vor seinen Forderungen kapitulierten?

Etwa 300 palästinensische Araber befinden sich zurzeit ohne gerichtliches Verfahren in israelischer Sicherheitsverwahrung. Wer die Geheimdienstakten nicht kennt, kann nicht wissen, ob Adnan, wie seine Verteidiger sagen, nur ein Sprecher der PJI ist oder weitaus gefährlicher. Auch wenn er selbst keine der „tickenden Bomben“ des PIJ ist, so gehört er doch zu denen, die es sind. Dennoch wird er von den Behörden freigelassen werden, weil sie fürchten, sein selbst gewähltes Martyrium könne zu Aufständen führen und internationale Kritik heraufbeschwören – von den Claqueuren der Palästinenser genauso wie von denen, die von den womöglich todbringenden Konsequenzen seiner Freilassung nicht betroffen oder ihnen gegenüber gleichgültig  sind.

Vielleicht wird in einem palästinensischen Gemeinwesen, das den Fanatismus nährt, der Hang zur Selbstbestrafung begünstigt. Aus Protest gegen Korruption in den palästinensischen Behörden traten im Januar traten Mitarbeiterinnen des palästinensischen Frauenministeriums in einen Hungerstreik. Vielleicht handelt es sich aber auch um ein weiter verbreitetes Phänomen: Wer „Kompromiss“ mit „Betrug“ gleichsetzt, neigt womöglich zu selbstzerstörerischem Verhalten. Man denke nur an den tödlichen Ausgang des Hungerstreiks von Mitgliedern der Baader-Meinhof-Gruppe Ende der 1970er-Jahre.

Wie auch immer es sich damit verhält: Jedenfalls haben andere Dschihad-Gefangene Adnans Strategie bereits kopiert – zuletzt Hana Shalabi, die nach der Administrativhaft im Austausch mit Gilad Shalit entlassen wurde und zum Terrorismus zurückkehrte. Die Tatsache, dass Adnans Hungerstreik nicht singulär ist, verleiht dem ethischen Dilemma besondere Dringlichkeit. Die Administrativhaft bereitet Bürgerrechtlern, Liberalen und Konservativen grosse Sorge. Ich stellte Joseph Agassi, Philosophieprofessor der Universität Tel Aviv dazu folgende hypothetische Frage: Angenommen, man hätte einen jungen Schwerverbrecher zur Zeit der Weimarer Republik während seiner fünfjährigen Haft nicht freundlich, sondern harsch behandelt, und er wäre depressiv geworden und in den Hungerstreik getreten – wäre es unmoralisch gewesen, ihn sterben zu lassen?

Agassi wies mein Szenario zurück. „Wäre es nicht besser“, hielt er mir entgegen, Israelis würden in Betracht ziehen, „ob es nicht einfacher und klüger wäre, die Situation zu ändern, statt dass wir uns mit den Unmöglichkeiten abquälen, die sie uns aufzwingt? Die eigentliche Frage“, so Agassi, „ist doch: Wie kommt es, dass in einem zivilisierten Land wie Israel die Gefängnisse aus den Nähten platzen?“

Und ein anderer israelischer Wissenschaftler, eher links eingestellt, ging einen Schritt weiter und fand, dass mein Vergleich zum Schwerverbrecher der Weimarer Republik hinke – denn Adnan sei als Palästinenser, verglichen mit den Juden Europas „ebenfalls Opfer moralisch zweifelhafter Politik und gewaltsamer Okkupation und Enteignung.“

Mit anderen Worten: In der israelischen Linken gibt es diejenigen, die Adnans Gefangennahme grundsätzlich ablehnen. Überzeugt davon, dass Israel „seine Seele verloren“ (oder niemals eine besessen) hat, lehnen einige Post-Zionisten die „Besetzung“  zutiefst ab und geben Benjamin Netanyahu die Schuld am Stillstand der „Friedensgespräche“; sie würden am liebsten alle palästinensischen „politischen“ Gefangenen aus der Haft entlassen. In der Tat: Wer überzeugt ist, dass Israels Präsenz jenseits der Waffenstillstandlinie  von 1949 keine Anspruchsgrundlage hat, und die Weigerung moderater Palästinenser, mit Netanyahu zu verhandeln, ebenso ausser Acht lässt wie die Vorhaben der Hamas und PIJ im Hinblick auf Israel, wird jemanden wie Adnan eher feiern als einsperren.

Was aber, wenn man der Meinung ist, auch das unvollkommene Israel sei noch immer ein moralisches Unterfangen? Wer immer die Promiskuität eines moralischen Relativismus ablehnt und dabei bleibt, dass die Ziele der PIJ schlichtweg böse sind, kommt zu einer anderen Schlussfolgerung – wie der konservative Rabbi und Theologe Abraham Feder aus Jerusalem.

Feder sieht keine Verpflichtung für die israelische Gesellschaft, Adnan zu retten, wenn dieser die Entscheidung trifft, „ein Martyrium auf sich zu nehmen für das erklärte Ziel, die israelische Gesellschaft zu zerstören“. Auch würde Feder israelische Ärzte nicht zwingen, Adnan zu retten. Anders als Ismael, den Gott in der Wildnis vom Tod errettet, obwohl er den Kindern Israels in Zukunft schaden wird, sei Adnan kein unschuldiger Junge, sondern das Mitglied einer mörderischen Organisation.

Es lässt sich nicht sagen, ob Israels Kapitulation Adnan gegenüber noch mehr Menschen vor dem Tod bewahrt hat als nur ihn selbst. Sein Tod hätte womöglich zu einem Ausbruch palästinensischer Aufstände geführt. Wenn er aus der Haft entlassen wird, wird er töten oder anderen helfen, es zu tun. Nur eines ist sicher: Das Ziel, für das Adnan bereit war zu sterben, ist die Vernichtung Israels. So  betrachtet, könnte das Urteil über den moralischen Kompass einer Person in der Antwort auf die Frage liegen, ob die Aussicht auf Adnans Freilassung sie erfreut – oder aber ängstigt, um das Mindeste zu sagen.

Originalversion: Martyr in Waiting by Elliot Jager © Jewish Ideas Daily, March 16, 2012.