Präventivschlag gegen den Iran: das Kalkül der Hisbollah

0
Lesezeit: 5 Minuten
Mahmud Ahmadinejad, Bashir al-Assad und Hassan Nasrallah zusammen auf einem Plakat in Damaskus. © istock/Joel Carillet

Ein amerikanischer oder israelischer Präventivschlag gegen Standorte iranischer Atomwaffen hätte unüberschaubare Konsequenzen; zu ihnen gehört die Möglichkeit, dass die vom Iran unterstützte libanesische Schiitenmiliz Hisbollah als Reaktion auf solch einen Angriff Raketen auf Israel abschiessen würde. Doch trotz der anhaltenden Behauptungen hochrangiger Hisbollah-Vertreter, ein Angriff auf die Islamische Republik bedeute, „die gesamte Region in Brand zu setzen“, sind Zweifel daran aufgekommen, ob die Miliz tatsächlich reagieren würde. Grund dafür sind anderslautende Erklärungen von Hassan Nasrallah, dem Generalsekretär der Organisation.

Wer befiehlt?

Die Hisbollah, in den frühen 1980er-Jahren mit politischer und finanzieller Unterstützung des Iran in Libanon gegründet, hat insofern eine einzigartige Stellung in der schiitischen Bevölkerung des Libanon, als ihre Mitglieder sich auf die Doktrin der Velayat-e Faqih verpflichten müssen; danach steht an der Spitze der schiitischen Theologie und Politik ein iranischer Mullah. Darum sind in Israel und in der prowestlichen, antisyrischen „Allianz des 14. März“ im Libanon viele davon überzeugt, dass die Hisbollah von Teheran aus gesteuert wird.

In der Vergangenheit haben Hisbollah-Vertreter die Frage der Befehlskette nicht diskutiert. Als Anfang Februar jedoch der Oberste Rechtsgelehrte des Iran, Ali Khamenei, ein langjähriges Tabu gebrochen und offen über die Unterstützung seines Regimes für die Hisbollah gesprochen hatte, erklärte Nasrallah, Teheran habe nie verlangt, dass die Hisbollah Israel in Reaktion auf einen Schlag gegen iranische Atomanlagen angreife. Wenn es nach Khamenei ginge, so sagte er, würden die Hisbollah-Führer „sich hinsetzen, nachdenken und entscheiden, was zu tun ist“.

Nasrallahs Erklärung scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass sich bei einem Angriff gegen den Iran auch kühlere Köpfe durchsetzen könnten. Allerdings ist die entscheidende Frage weniger, was der Iran von der Organisation fordert, sondern vielmehr, worin die „Pflicht“ der Gruppe in einem solchen „Widerstandskampf“ liegt. Die Antwort lautet: Während die geistlichen Verpflichtungen der Hisbollah dem Iran und dem Obersten Rechtsgelehrten gegenüber enorm sind, zieht die Miliz bei ihrer Entscheidung über die Reaktion auf einen Schlag gegen ihre iranischen Gönner offenbar auch Faktoren ausserhalb dieser geistlichen Verpflichtungen in Betracht.

Materialkosten

Während der vergangenen drei Jahrzehnte hat die Hisbollah im Libanon bedeutende materielle Güter im Libanon erworben. Nachdem sie 2006 im Krieg gegen Israel viel von ihrem Arsenal und ihrer Infrastruktur verloren hatte, baute die Hisbollah sie mit iranischer und syrischer Unterstützung wieder auf und senkte ihre Ausgaben. Nun besitzt die Gruppe nie dagewesene Mengen noch modernerer Ausrüstung, die sie durch einige weitere Kampfrunden mit Israel bringen könnte. Allerdings ist ihr auch bewusst, dass sich eine Wiederbewaffnung in der Zukunft als grössere Herausforderung erweisen könnte, besonders wenn Bashir al-Assads bedrängtes Regime in Syrien gestürzt wird.

Das nominell säkulare alawitische Regime in Damaskus ist seit mehr als dreissig Jahren ein strategischer Verbündeter des theokratischen Iran gewesen; sollte es stürzen, würde es zweifellos von einem sunnitischen Regime ersetzt werden, das der schiitischen Führung in Teheran und der Hisbollah gegenüber nicht freundlich gesinnt wäre. Damaskus zu verlieren, den Lieferanten und Umschlagknoten für iranische Waffen, würde die Hisbollah wohl dazu zwingen, sich auf dem Seeweg wieder zu bewaffnen; ein zeitaufwendigeres und riskanteres Unterfangen.

Symbolische Kosten

Die Hisbollah hat ihr Image als Verteidiger des Libanon und Anführer des regionalen „Widerstandes“ gegen Israel seit Jahren sorgfältig kultiviert. Nach dem Krieg von 2006 wurde der Schiit Nasrallah zur populärsten Führerfigur in der weitgehend sunnitischen arabischen Welt. Seitdem hat jedoch eine Reihe von Fehlern das Image der Gruppe in der Region beschädigt – dazu gehört, dass die Hisbollah 2005 in die Ermordung des damaligen libanesischen Premierministers und Anführers der sunnitischen Gemeinschaft des Landes, Rafiq al-Hariri , verwickelt war, und die bewaffnete Übernahme Beiruts im Jahr 2008. Nasrallahs leidenschaftliche Verteidigung eines Assad-Regimes, das Gräueltaten begeht, hat den Rest an Beliebtheit der Organisation demontiert, der im Ausland noch übrig war.

Die Miliz braucht die anhaltende Unterstützung zu Hause, und die meisten Libanesen erkennen, dass die nächste Auseinandersetzung mit Israel sie noch teurer zu stehen kommen würde als die vorherige. Beide Seiten haben reichlich Zeit gehabt zu planen und sich vorzubereiten, und Israel hat wiederholt geschworen, in einem zukünftigen Konflikt die „Dahiya-Doktrin“ zu verfolgen; sie zielt nicht nur gegen Stützpunkte der Hisbollah, sondern auf die gesamte zivile libanesische Infrastruktur. Sollte die Hisbollah Vergeltung üben, riskiert sie, für die Initiierung eines weiteren Krieges gegen Israel im Auftrag des Iran verantwortlich gemacht zu werden.

Wie die Hisbollah jeden dieser Faktoren in ihrer Entscheidungsfindung gewichten wird, ist schwer zu beurteilen. Teheran hofft zweifellos, dass die von der Hisbollah ausgehende Bedrohung einen israelischen oder amerikanischen Angriff abschrecken wird; doch sollte ein solcher Schlag unternommen worden sein, wäre das Bedrohungspotential, Israel mit Raketen zu überziehen, eher symbolisch als strategisch. Letztlich würden sowohl der Libanon als auch Israel verwüstet in einer Auseinandersetzung, die wahrscheinlich in einen Vergeltungskrieg ausufern würde. Nach Ansicht des ehemaligen Chefs des Mossad, Meir Dagan, hätten Vergeltungsmassnahmen der Hisbollah eine „verheerende Auswirkung“ auf das tägliche Leben in ganz Israel, aber die in diesem Fall sicher zu erwartende physische Zerstörung des Libanon könnte sowohl Teheran als auch die Hisbollah zur Überzeugung bringen, dass der Preis zu hoch wäre.

Gleichwohl könnte es sein, dass die Hisbollah sich ausserstande sieht, vollständig an der Seitenlinie zu bleiben. Anstatt aufs Ganze zu gehen, könnte die Miliz versuchen, ihre Reaktion zu kalibrieren, und so Israel eine Vergeltungsmassnahme zu entlocken, die moderater ist. Statt zum Beispiel das israelische Verteidigungsministerium in Tel Aviv mit Raketen mit längerer Reichweite zu beschiessen, könnte die Hisbollah Katjuschas auf den Norden Israels niedergehen lassen und Israel herausfordern, in die Eskalation zu gehen. Israel könnte diese Dynamik zu vermeiden versuchen, indem es die Folgen jeder möglichen Vergeltung durch die Hisbollah jeweils öffentlich signalisiert.

Da Assad am Ende seiner Kräfte ist, steht die Hisbollah vor beispiellosen Einschränkungen und Zwängen, die sich nur noch verschärfen, falls er gestürzt wird. Eine strikte Kosten-Nutzen-Perspektive könnte die Miliz zu der Entscheidung bringen, dass ein Angriff auf Israel in Reaktion auf einen Schlag gegen den Iran kontraproduktiv wäre. Doch es ist auch gut möglich, dass nicht rationale Erwägungen ausschlaggebend sind, sondern die übergeordnete Autorität der von der Hisbollah empfundenen Verpflichtung, die religiöse Autorität ihres Anführers in Teheran zu verteidigen.

David Schenker ist Aufzien Fellow und Leiter des Program on Arab Politics am Washington Institute.

Kurzfassung der Originalversion: Retaliate or Not: Hisbollah’s Calculus Following a Strike on Iran by David Schenker © The Washington Institute for Near East Policy, March 14, 2012. All rights reserved.