Was würde Ariel Scharon tun?

0
Lesezeit: 5 Minuten

Väter-Biographien von Söhnen sind eine unsichere Gattung. Nähe bringt zwangsläufig Verzerrungen mit sich, positive oder negative. Doch in einer Zeit, in der die meisten der israelischen und weltweiten Führungsfiguren auffallend klein erscheinen, lohnt es sich, das Porträt Ariel Scharons in dem Buch Sharon: The Life of a Leader anzusehen, das sein jüngster Sohn Gilad verfasst hat. Was lässt sich beim Vergleich über derzeitige israelische Führer sagen, und welche Lehren können aus Scharons Leben möglicherweise gezogen werden?

Es gibt keinen israelischen Führer, der eine grössere Rolle gespielt, mehr Zuneigung und Feindseligkeit geweckt hat oder in grösserem Masse an Triumphen und an Niederlagen beteiligt war als Ariel Scharon. Sein Name steht symbolisch für diese Erfolge und Katastrophen wie der keines anderen Israeli. Der Wert der Biographie jedoch liegt zum Teil in der Korrektur und Präzisierung solcher Eindrücke. Das gewaltige Image des späteren politischen Scharon, das sich vor unserem geistigen Auge verfestigt hat, weist auf eine Rabelaissche, trieb- und impulsgesteuerte Figur hin. Das Portrait, das sein Sohn malt, beschreibt genau das Gegenteil: einen Mann, der sich mit Hingabe der Familie widmete und akribisch plante.

Scharons Karriere bestand im Wesentlichen aus drei Phasen: Er war Soldat, Baumeister und Politiker. Geboren in der ländlichen Siedlung Kfar Malal, gleich südlich des modernen Kfar Saba, verbrachte Scharon seine Kindheit an der Grenze Israels. Er wurde geprägt von der Realität permanenter arabische Bedrohungen und Angriffe, und von seinen willensstarken Eltern – kultivierten Querdenkern, im Dorf dafür geächtet, dass sie sich weigerten, den wechselnden sozialistischen und Parteidogmen zu unterwerfen.

Scharon trat 1945 der Hagana bei und stieg schnell auf. In der Schlacht um Latrun, bei der er schwer verletzt wurde, lernte er die traurige Lektion, dass es manchmal notwendig ist, Boden zu verlieren und die Verwundeten zurückzulassen. Im Krieg von 1956, er war Leiter der Kommandoabteilung der Einheit 101 und der Fallschirmjägerbrigade, führten seine unkonventionellen Taktiken dazu, dass der grenzüberschreitende Terrorismus besiegt und der Mitla-Pass gesichert werden konnte. 1967 und 1973 kam es unter seinem Kommando zu Panzer-Durchbrüchen, die den Verlauf des Krieges veränderten. Seine Führung geschah von vorne, und er zeichnete sich durch persönliche Tapferkeit und Kühnheit aus; und er war in der Lage, der höchst politischen Natur des israelischen Militärs Rechnung zu tragen und Dummköpfe schweigend zu ertragen.

Scharons Karriere als Baumeister und Politiker waren miteinander verflochten. Er gehörte 1973 zu den Gründern der Likud– und 2005 zu denen der Kadima-Partei. Während seiner politischen Laufbahn war er Minister für Landwirtschaft, Verteidigung, Bauwesen, Industrie und Handel, Nationale Infrastruktur und Aussenminister; 2001 wurde er Premierminister. Er führte die Gründung von Siedlungen in der Negev, in Galiläa, im Westjordanland und im Gazastreifen an, bevor das Wort „Siedlung“ zu einem umstrittenen Begriff wurde. Dann, im Jahr 2005, ordnete er die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen an, ohne auf die Likud-Einwände zu achten. Er war Premierminister bis 2006, als mit seinem Schlaganfall etwas eintrat, was weder er noch sein Land vorhergesehen hatte und was den glücklosen Ehud Olmert an die Macht brachte.

Die militärische Karriere einer Führungsperson ist ein nur unsicherer Leitfaden für seine Politik, doch in Scharons Fall liefert sie Hinweise. Seine Strategie beruhte auf Abschreckung – es ging darum, dass der Feind glauben musste, die die Konsequenzen seines Angriffes würden schnell, unabwendbar, hart und unberechenbar sein. Taktisch verlangte diese Vorgehensweise eine genaue Kenntnis der Landschaft und des Gegners, die Fähigkeit, wenigstens eine Flanke vor Angriffen zu schützen, minutiöse Planung, ununterbrochene Angriffe und die Bereitschaft, einen Plan zu verwerfen, wenn er nicht mehr funktioniert. Scharon wandte diese Prinzipien an, wenn es in kleinerem Umfang um die Bekämpfung eines Aufstands ging, bei der Kriegsführung mit Panzern, der Politik und bei internationalen Angelegenheiten.

Scharons Ansatz zielte nicht nur darauf ab, zu reagieren oder sich anzupassen, sondern die Bedingungen zu ändern, das strategische Umfeld zu gestalten. Allerdings hatte er dabei, wie sein Sohn vielleicht unbeabsichtigt zeigt, nie vollen Handlungsspielraum. Ängste, Inkompetenz, Eifersüchteleien und das Zögern anderer, politisches Mikromanagement bei militärischen Operationen und Einschränkungen der israelischen Souveränität durch die Supermächte waren Faktoren, die Scharon einschränkten, genau wie das eigene überlebensgrosse Image. Israels Geschichte hätte sich möglicherweise anders entwickelt, wenn Scharon an verschiedenen Wendepunkten ganz auf seine Weise hätte handeln können; aber echte Geschichte ist aus Tausenden von grossen und kleinen Kompromissen gemacht.

[…]

Auf die politische Karriere seines Vaters geht Gilad weit weniger detailreich ein als auf die militärische. In einer Hinsicht ist dies gerechtfertigt. Sowohl die Politik als auch militärische Aktionen sind in der Regel langweilig – ersteres ist allerdings selten eine Frage von Leben und Tod, während es beim Militär eben genau um diese Alternative geht. Doch Gilad erforscht den extremen Ausschlag an Zuneigung und Feindseligkeit, die sein Vater weckte, nicht vollständig. „Persönlichkeit“ und „Charisma“ sind nebulöse Wörter; sie unterscheiden Führerschaft von Narzissmus oder Wassertreten, aber sie bergen auch Widersprüche. Scharon war ein pragmatischer säkularer Zionist, der das Land eher durch ein praktisches militärisches Prisma als durch ein ideologisches oder religiöses sah; und doch war er der Patron der Siedlerbewegung von Gusch und ein Freund der Ultraorthodoxen. Gilad versäumt es, diese und andere Fragen zu erörtern.

Zeigt irgendeiner der heutigen israelischen Führer die Einsicht, den Willen oder die Persönlichkeit, die mit Scharon vergleichbar wäre? Oder könnte Scharon sogar der Standard sein, an dem sie gemessen werden sollten? Tatsache ist, dass die meisten derzeitigen israelischen Führer militärisch und politisch klein sind. So wie die meisten Führer weltweit. Dabei ist das Schicksal der westlichen Länder letzten Endes abhängig von ihrer Führung – der Bereitschaft, Ereignisse anzupacken und eine strategische Vision zu entwickeln, die das Volk mit einbezieht. An dieser Qualität herrscht derzeit in Israel Mangel, und in Amerika und im Westen fehlt sie völlig.

Man kann nicht sagen, was Scharon in der Welt des „Arabischen Frühlings“, der palästinensischen „Einseitigen Unabhängigkeitserklärung“ oder des beschleunigten iranischen Atomprojekts getan hätte; vermutlich würde er Freund und Feind mit unerwarteten Schachzügen verwirren. Wie hätte er dem israelischen Volk wohl eine neue Vision vermittelt, die seine nie dagewesenen Herausforderungen genauso wie sein nahezu grenzenloses Potenzial in den Blick nimmt? Vielleicht wird an dieser Stelle eine Führung, wie Scharon sie leistete, am meisten vermisst.

Alex Joffe

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Jewish Ideas Daily.

Originalversion: What Would Ariel Sharon Do? By Alex Joffe © Jewish Ideas Daily, March 5, 2012.