Jordanien ist palästinensisch

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Amman Foto: visitjordan.com

Bisher hat das haschemitische Königreich Jordanien den Sturm überstanden, der seit Beginn dieses Jahres durch den Nahen Osten fegt. Doch die relative Ruhe in Amman ist trügerisch. Die unausgesprochene Wahrheit ist, dass die Palästinenser, die grösste ethnische Gruppe des Landes, einen tiefen Hass auf das Regime entwickelt haben und die Haschemiten als Besatzer des östlichen Palästinas ansehen; sie sehen in ihnen eher Eindringlinge als legitime Herrscher. Dies aber macht einen Herrschaftswechsel in Jordanien wahrscheinlicher denn je. Ein solcher Wechsel allerdings würde sich nicht auf den Sturz eines weiteren arabischen Despoten beschränken; er würde auch die Tür öffnen für die einzige realisierbare Friedenslösung, und zwar für eine, die eigentlich seit einiger Zeit schon existiert: mit einem palästinensischen Staat in Jordanien.

Ein Weg zum Frieden?

Die von der haschemitischen Regierung unternommenen verzweifelten und letztlich destabilisierenden Massnahmen zur Erhaltung ihrer Macht machen die Notwendigkeit deutlich, eine lange nicht beachtete Lösung des arabisch-israelischen Konflikts wiederzubeleben: die jordanische Alternative. Jordanien ist die Heimat der weltweit prozentual grössten palästinensischen Bevölkerung, und die Errichtung eines palästinensischen Staates auf jordanischem Boden ist damit logischer als an einem anderen Ort – sprich: Israel.

Beduine in Wadi Rum Foto: istock/© Niko Guido

Tatsächlich gibt es in Jordanien fast nichts, was nicht palästinensisch wäre – bis auf die königliche Familie. Obwohl dem Land jahrzehntelang von offizieller Seite ein Beduinen-Image auferlegt wurde und die Sprache im staatlichen Fernsehen sogar beduinische Akzente aufweist, ist die palästinensische Identität noch immer die dominierende. Das reicht bis zu dem Detail, dass die jordanische Hauptstadt Amman die grösste und bevölkerungsdichteste palästinensische Stadt überhaupt ist. Palästinenser sehen in ihr ein Wahrzeichen ihres ökonomischen Erfolges und ihrer Fähigkeit, exzellente Leistung erbringen zu können. Ausserdem hätte die Unterstützung für eine palästinensische Staatlichkeit in Jordanien eine fundierte und rechtlich anerkannte Begründung: In dem Moment, in dem in Jordanien erste demokratische Mechanismen gelten würden, würde die palästinensische Bevölkerungsmehrheit zu Recht die politische Dynamik übernehmen.

Doch politische Akteure der Region haben seit Jahrzehnten Ängste geschürt, was die Unterstützung der jordanischen Palästinenser angeht. Es mag Befürchtungen geben, dass Jordanien als palästinensischer Staat Israel gegenüber feindlich gesinnt sein könnte und Terrorangriffe jenseits der langen Grenze unterstützen würde; allerdings sind solche Bedenken, obgleich legitim, doch rätselhaft. Israel hat den Palästinensern erlaubt, ihre eigenen Entscheidungsinstanzen, eine eigene Polizei und paramilitärischen Einheiten auf dem im Krieg von 1967 eroberten Land einzurichten, unmittelbar neben grösseren israelischen Ballungszentren. Würde ein palästinensischer Staat auf der anderen Seite des Jordans eine grössere Gefahr für die Sicherheit Israels darstellen als einer in Judäa und Samaria?

Das Jordantal bildet eine viel effektivere natürliche Barriere zwischen Jordanien und Israel als irgendwelche Zäune oder Mauern. Es spricht viel dafür, dass das unwegsame Gelände dieses Gebietes zusammen mit der militärischen Stärke Israels das haschemitische Regime davon abgehalten hat, in mehr als vierzig Jahren einen Krieg mit Israel überhaupt nur in Erwägung zu ziehen.

Man könnte weiter argumentieren, dass die Palästinenser bei einer Kontrolle über Jordanien die von ihren beduinischen Rivalen dominierten militärischen Institutionen verkleinern würden. Ein von Palästinensern regiertes Amman würde vielleicht anstreben, die Militärausgaben zu kürzen, in der Hoffnung, die militärische Präsenz der USA in der Region würde das Land vor unerwünschten Übergriffen seitens Damaskus‘ oder Teherans schützen. Es könnte darüber hinaus auch von den finanziellen und wirtschaftlichen Impulsen, die mit guten nachbarschaftlichen Beziehungen zu Israel einhergehen, stark profitieren.

Schon jetzt sind die Palästinenser in Jordanien für ihr Trinkwasser von Israel abhängig;  durch die Qualified Industrial Zones (Qualifizierte Industriezonen) haben sie einen florierenden wirtschaftlichen Aufschwung genossen; diese Zonen erlauben es jordanischen Textilfabriken, Kleidung zu bevorzugten Tarifen in die USA zu exportieren, wenn ein Mindestanteil der Rohmaterialien aus Israel stammt. Hunderte von palästinensischen Fabrikbesitzern prosperieren aufgrund dieser Zonen. Die Erweiterung einer solchen Zusammenarbeit zwischen einem zukünftigen palästinensischen Staat in Jordanien und Israel würde den Palästinensern noch mehr Gründe verschaffen, eine gute Beziehung zu ihrem Nachbarn zu pflegen.

Die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten sollten als Leitlinien für das weitere Vorgehen dienen: was sollte verfolgt und was vermieden werden? Eine Intervention in Jordanien müsste viel weniger robust sein als in Libyen und könnte ohne grössere militärische Aktion auskommen. Abdullah ist ein Aussenseiter, der ein armes Land mit wenigen Ressourcen regiert; sein einziger Rückhalt ist die politische und finanzielle Unterstützung durch Washington. Im Gegenzug für das Versprechen der Immunität könnte sich der König davon überzeugen lassen, die palästinensische Mehrheit herrschen zu lassen und zu einer Repräsentationsfigur zu werden, etwa nach dem Vorbild der britischen Königin Elizabeth.

Fazit

Die palästinensisch-jordanische Lösung für einen Frieden in Betracht zu ziehen, heisst nicht, die im Westjordanland lebenden Palästinenser zu diskriminieren oder ihre Menschenrechte einzuschränken: Sie wären in Jordanien willkommen oder könnten bleiben, wo sie sind, wie sie es wünschten. Bestimmender Faktor sollte der freie Wille sein, nicht politischer Druck. Nebenbei gibt es Hinweise darauf, dass viele nichts dagegen hätten, in Jordanien zu leben. Wenn die Palästinenser in Jordanien das Sagen hätten, würde diese Tendenz massgeblich verstärkt werden. Diese Tatsache ist durch eine kürzlich veröffentliche Depesche aus der amerikanischen Botschaft in Amman bestätigt worden; in ihr machten palästinensische Politiker und Gemeindevertreter in Jordanien deutlich, dass sie das „Rückkehrrecht“ (right of return) nicht in Anspruch nehmen würden, wenn ihre Bürgerrechte in Jordanien gesichert wären.

Eine palästinensische Kontrolle Jordaniens zu unterstützen und einen Ort zu schaffen, den die in der ganzen Welt verstreuten Palästinenser Heimat nennen können, könnte nicht nur die Bevölkerungsproblematik und das demographische Problem für die Palästinenser in Judäa und Samaria entschärfen, sondern darüber hinaus das viel kompliziertere Problem des Rückkehrrechts für Palästinenser anderer arabischen Staaten lösen. Etwa eine Million palästinensische Flüchtlinge und deren Nachkommen leben in Syrien und Libanon, weitere 300 000 in Jordanien, denen die haschemitische Regierung noch immer die Staatsbürgerschaft verweigert. Um wie vieles besser könnte ihre Zukunft aussehen, wenn es ein palästinensisches Jordanien gäbe, das sie mit offenen Armen aufnimmt!

Die jordanische Alternative scheint im Moment die bestmögliche und praktikabelste Lösung zu sein. Jahrzehntelange Friedensgespräche und Milliarden von Dollar, die die internationale Gemeinschaft investiert hat, haben sowohl für die Palästinenser als auch für die Israelis nur mehr Schmerz und Leiden gebracht  – ausser Wohlergehen und Reichtum für die Haschemiten und ihre Kumpanen.

Es ist an der Zeit für die internationale Gemeinschaft, eine naheliegendere und weniger kostspielige Lösung anzusteuern, anstatt auf schon lange in Verruf geratenen Trugschlüssen zu beharren. Historisch betrachtet ist es verblüffend, dass die Welt sich so schwer tut, die Haschemiten zu bitten, Jordanien – ein Land, in dem sie Fremde sind – zu verlassen, während sie auf der anderen Seite fordert, dass israelische Familien mit Gewalt aus jahrzehntealten Gemeinschaften in ihrer angestammten Heimat entfernt werden sollen. Ebenso frustrierend ist das Schweigen der Welt, während Palästinenser auf der Flucht vor Kämpfen im Irak in Wüstenlagern im Osten Jordaniens gefangen sind, weil das Regime sich weigert, sie anzusiedeln, „solange keine ausländische Hilfe gewährt wird“.

Die Frage, die an dieser Stelle beantwortet werden muss, lautet: Hat der Westen jemals versucht, Kontakte mit einer dem Frieden zugeneigten palästinensisch-jordanischen Opposition zu etablieren? Die heutigen Palästinenser sehnen sich nach Anführern. Für Washington bietet sich die historische Gelegenheit, eine mögliche palästinensische Führung zu unterstützen, die an eine friedensorientierte Zweistaatenlösung glaubt, mit dem Jordan als trennende Grenze zwischen beiden Ländern. Solch eine Führung scheint es zu geben. Was Ost-Jerusalem angeht, so ist es unter der jetzt 44-jährigen Herrschaft Israels gelungen, Muslimen, Christen und Mitgliedern aller anderen Religionen zu ermöglichen, diesen Teil der Stadt zu besuchen und ihren Glauben frei auszuüben; genauso wie Milliarden von Menschen aus der ganzen Welt den Vatikan besuchen oder muslimische Pilger nach Mekka strömen. Als die Stadt haschemitisch besetzt war, war dies nicht der Fall. Ohne die Staatsbürgerschaft als Zugangsmöglichkeit zu verlangen, würde Jerusalem für alle Besucher eine offene Stadt bleiben.

Die jordanische Alternative ist eine Lösung, die überfällig ist: Eine moderate, friedliche, wirtschaftlich florierende palästinensische Heimat in Jordanien würde es sowohl Israelis als auch Palästinensern erlauben, wahren und andauernden Frieden zu erleben.

 

Mudar Zahran ist jordanisch-palästinensischer Schriftsteller, der sich als politischer Flüchtling in Grossbritannien aufhält. Er hat als Wirtschaftsspezialist und Assistent des politischen Koordinators in der amerikanischen Botschaft in Amman gearbeitet, bevor er im Jahr 2010 nach Grossbritannien zog.

Stark gekürzte Übersetzung der Originalversion: Jordan is Palestinian by Mudar Zahran, Middle East Forum, Middle East Quarterly, Winter 2012, pp. 3 – 12.

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Die auf Audiatur-Online veröffentlichten Beiträge geben nicht grundsätzlich den Standpunkt der Audiatur-Stiftung wieder, sondern bieten vielmehr einen Einblick in die politische Diskussion zu Israel und dem Nahen Osten.

 

3 Kommentare

  1. Grade in der gegenwärtigen Situation ist sehr deutlich, dass Jordanien politisch nicht Palästina ist, dass Palästinenser dort nichts zu sagen haben: Flüchtlinge aus Syrien mit syrischem Pass werden trotz aller Schwierigkeiten aufgenommen – staatenlose Palästinenser, die seit der Vertreibung aus Palästina/Israel in Syrien leben – werden nicht aufgenommen. Sie müssen weiter in Syrien ausharren und hoffen, den dortigen Bürgerkrieg zu überleben.
    Interessiert Euch das Schicksal Eurer Halbbrüder- und Schwestern eigentlich?

  2. Schon rein geografisch ist Jordanien eben nicht Palästina.
    Man stelle sich vor, vor ein paar tausend Jahren hätte in der Schweiz ein anderes Volk gewohnt. Das hat sich immer nach den Schweizer Bergen gesehnt, die Sehnsucht wurde von Generation zu Generation weitergegeben, und in der Erinnerung dieses Volkes wurde die Schweiz schöner, als sie es schon ist. Nach vielen Wirren der Geschichte kommt dieses andere Volk zurück und nimmt die Schweiz wieder in Besitz, vertreibt die Leute, die seit so vielen Generationen auf Schweizer Boden leben, dass sie gar nichts anders kennen. Gnädigerweise bekommen diese Leute die Möglichkeit, in einem unfruchtbaren Landstrich außerhalb der Schweiz mehr schlecht als recht zu leben. Und das andere, zurückgekehrte Volk schaut geringschätzig auf diese Menschen herab und sagt: Da habt ihr ein Land. Ihr könnt es ja Schweiz nennen.
    Man kann doch nicht ein ganzes Volk sprichwörtlich in die Wüste schicken und davon ausgehen, dass selbiges damit zufrieden ist. Ich war zu Gast bei Palästinensern in Jordanien. Die wissen genau, woher das Wasser kommt, das einmal wöchentlich durch die Leitungen plätschert: Warum in der Wüste leben, wenn es doch in der Heimat Wasser gibt? Für den Gedanken muss man garnicht nationalistisch gesinnt sein. Palästinenser sind auch friedliebend. Das sind alle Menschen, die das Träumen noch nicht verlernt haben. Solange die Palästinenser aber die eindeutigen Verlierer der Geschichte sind, ein Spielball der Mächte – vom Römischen über das Osmanische Reich über die Engländer, ganz zu schweigen von den heutigen Zuständen – wird es keinen Frieden geben. Auf beiden Seiten gibt es ein paar Verrückte, die das andere Volk am liebsten ausrotten würden. Aber Verrückte gehören in die Psychatrie, nicht in Regierungen.

  3. Westlich des Jordans bevölkern halt eben die Israeliten Ihr verheissenes Land; dies dürfte eigentlich spätestens seit dem Fall der Mauern von Jericho vor 3500 Jahren publik sein. Auch wenn etliche Israeliten/Juden tausende Jahre lang auch auf der östlichen Seite des Jordans, also im heutigen Jordanien gelebt haben, gibt es Heute kaum ein Israeli, der den jordanischen Arabern (mehrheitlich "Palästinensern") die Souveränität über dieses Ostjordanland strittig machen würde. Die Juden gehören zu den Friedliebenden, wenn sie in Ruhe gelassen werden. Dies beweist die Geschichte, dem der sie kennt. Es steht der Formel Jordanien ist "Palästina" also nur eines im Wege:
    Der radikalisiert-muslimischen Welt würde ihr Lieblingsargument gegen den unwillkommenen jüdischen Staat abhanden kommen und dann würde dem islamistischen Terror gegen "Ungläubige" der Strom weltweit wieder knapper, zu knapp…

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