Gaddafi ist tot, Libyens Herausforderungen bleiben

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Muammar Gaddafi ist so gestorben wie er Libyen regiert hat – grausam. Dennoch werden einige Libyer über die Art und Weise klagen, wie er zu Tode gekommen ist.  Sie feiern verständlicherweise den Tod eines Tyrannen – und das Versprechen auf eine bessere Zukunft.

Der Tod eines Despoten ist aber keine Garantie für bessere Tage. Man muss nur die Iraker fragen. Saddam Hussein wurde zwar im Dezember 2003 gefangen genommen und drei Jahre später exekutiert. Doch ist der Irak seit acht Jahren durch Gewalt zerrüttet. Zehntausende Iraker starben mit der Frage, wo den der Frieden bleibt, der bei der Befreiung Bagdads versprochen wurde.

Libyen ist natürlich nicht der Irak. In Libyen gibt es nicht die tiefe konfessionelle und ethnische Kluft, die den Irak heimsucht. Libyen hat seine ganz eigenen Herausforderungen.  Eine unmittelbare Herausforderung ist die Entwaffnung der Milizen, die Gaddafi zu Sturz gebracht haben, und ihre Ersetzung durch ein kompetentes Nationalmilitär und wirksame örtliche Polizeikräfte.

Das ist eine grosse Aufgabe. Für die Milizen sind die Waffen eine Garantie ihres politischen Einflusses sowie ihrer Sicherheit. Sie könnten sich widersetzten, die Macht entweder an das Nationalmilitär oder an örtliche Polizeikräfte abzutreten. Dennoch wird beides zur Aufrechterhaltung der Ordnung erforderlich sein. Das könnte zu einer Gefahr werden, weil Racheakte, ob nun seitens der Gaddafi-Treuen oder seiner Feinde, einen Kreislauf eskalierender Gewalt auslösen könnte. Die daraus resultierende Unstabilität könnte Libyen zu einem Magnet für Kriminelle und Terroristen wandeln.

Eine weitere Herausforderung ist, Libyens Wirtschaft wieder in Schwung zu bekommen. Hier haben aber die Libyer den Wind im Rücken. Sie haben, was die Welt will – Öl. Westliche Firmen, die das meiste libysche Öl produzieren, sind alle zurückgekehrt und haben die Produktion wieder aufgenommen. Libyen produziert fast eine Million Barrels pro Tag und Ölquelle. Das macht beinahe zwei Drittel der Produktion aus, wie sie vor Beginn der Kämpfe war.

Die dritte Herausforderung ist zugleich die schwierigste – der Aufbau eines stabilen, wirksamen und legitimen politischen Systems. Die Übereinstimmung, den alten Herrscher zu stürzen, eröffnet zugleich den Weg zur Uneinigkeit darüber, was kommen soll. Die unterschiedlichen Nachrichtenmeldungen zu Gaddafis Tod heben die Spaltung innerhalb des Nationalen Übergansrates hervor. Die komplexe Bande zwischen Klan, Stamm und Region verkomplizieren die Angelegenheit noch mehr.

Gaddafis Tod stellt nicht nur Libyen vor Herausforderungen, auch die USA und die NATO.  Die tragbaren Boden-Luft-Raketen und andere Waffen müssen aufgespürt werden, die von Gaddafis Militärdespoten geplündert und auf dem Schwarzmarkt verkauft worden sind. Sollten diese Waffen gegen die Amerikaner oder Europäer zum Einsatz kommen, würde die Beurteilung der Operation Unified Protector schnellstens revidiert.

Die USA und NATO müssen den langfristigen diplomatischen Auswirkungen entgegentreten, die Gaddafis Tod mit sich bringt.  Die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates wurde mit der Begründung zum Schutz der libyschen Zivilisten gerechtfertigt. In den Augen seiner Verteidiger, hat die Resolution die Norm einer internationalen Verantwortlichkeit zum Schutz in die Tat umgesetzt.

Für viele in der Welt sieht Resolution 1973 jetzt aus wie eine Lockvogeltaktik. Anfang Monat wies der russische UN-Botschafter das Bestreben, Syrien für die Tötung der Demonstranten zu bestrafen, mit der Warnung ab, dass im Frühjahr „die Forderung nach einem schnellen Waffenstillstand zu einem ausgewachsenen Bürgerkrieg geworden ist“. Die Resolution wurde nicht angenommen,  obwohl  es Damaskus nicht mehr als mit dem Finger gedroht hätte. Statt die Geburt einer Verantwortlichkeit zum Schutz als internationale Praxis zu begehen, könnte Libyen seinen Untergang begehen.

Die USA und Europa könnten eher mit den Konsequenzen zu tun haben, als ihnen lieb ist. Gaddafis Tod hat zweifelsohne die Aufmerksamkeit von Bashir al-Assad erweckt. Wie wird der syrische Diktator reagieren? Vielleich entschliesst er sich, ins Exil zu gehen, weil er seinen leblosen Körper nicht über die Strassen von Damaskus geschleift wissen möchte. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er und seine Unterstützer zu dem Entschluss kommen, dass es ihre beste Handlungsoption sei, härter mit den Demonstranten durchzugreifen, damit diese nicht die Oberhand gewinnen. Was werden die USA und Europa dann unternehmen?

Das sind alles Probleme und Gefahren, die für das libysche Volk bis morgen warten können. Heute wird gefeiert. Der Tyrann ist tot.

James M. Lindsay

James M. Linsay is Senior Vice President, Director of Studies, and Maurice R. Greenberg Chair, Council on Foreign Relations

Originalversion:  Qaddafi’s Dead, Libya’s Challenges Remain By James M. Lindsay, © Council on Foreign Relations, October 20, 2011