Die Stimme der stummen Zeugen – Historische Synagogen in Europa

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Spanische Synagoge in Prag. Foto Thomas Ledl, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=47821613
Spanische Synagoge in Prag. Foto Thomas Ledl, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=47821613
Lesezeit: 6 Minuten

Vom Beginn der Zerstreuung in den ersten Jahrhunderten n. Chr. bis hin zur Aufklärung im 18. Jahrhundert lebte das jüdische Volk in Europa abgeschottet und als Randgruppe in der Gesellschaft. Ihr Schicksal zeichnet sich durch endlose Perioden der Diskriminierung und qualvollen Verfolgung, durchbrochen von kurzen Lichtblicken – Toleranzphasen, in denen die jüdische Wissenschaft und Kunst blühte.

 

von Michelle Wolf

Ein Vorzeigebeispiel in der Geschichte ist das ‚goldene Zeitalter’ der Juden in Spanien unter islamischer Regierung, bis durch die Reconquista schliesslich alle Nicht-Christen zwangskonvertiert oder vertrieben wurden. Heute ist nicht mehr viel Authentisches übrig, das uns etwas über die Zeit des jüdischen Mittelalters erzählen könnte. Umso wichtiger ist es, den stummen Zeugen, die noch existieren, eine Bühne zu geben: anhand von zwei ausgewählten religiösen Zentren soll das jüdische Leben vor dem Zeitalter der Vernunft stichprobenartig geschildert werden.

Legenden um die Altneu-Synagoge in Prag

Die älteste erhaltende Synagoge in Europa steht in einer Stadt, die lange Zeit eine der grössten jüdischen Gemeinden beherbergte sowie ein Zentrum der rabbinischen Kultur präsentierte. Persönlichkeiten wie Salomo Juda Rapoport (Mitbegründer der „Wissenschaft des Judentums“) oder Eliezer Aschkenasi (multinationaler Gelehrter) wirkten in der Altneu-Synagoge in Prag. Die Fertigstellung der typisch mittelalterlichen zweischiffen Gebetsstätte wird auf das Jahr 1270 geschätzt. Sie überlebte sämtliche Stadtbrände, Pogrome und Kriege und stellt bis heute das Zentrum des jüdischen Lebens in Prag dar. Alleinstehend inmitten der Josefstadt, dem ehemaligen Judenviertel, überlebte eines der ältesten gotischen Bauten sogar die deutsche Besetzung, da die Nazis das jüdische Ghetto zu einem Museum der ‚ausgelöschten jüdischen Rasse’ umwandeln wollten. Durch diese Schicksalswendung existiert die historisch überaus wertvolle Synagoge noch, und stellt dazu ein kleines Stückchen Paradies dar, wenn man einer Legende glaubt, die besagt, dass der Name ‚Alt-neu’ vom Jiddischen ‚Al tenai’ (unter der Bedingung, dass) abgeleitet wird. Engel sollen beim Bau der ältesten Synagoge Steine aus dem Jerusalemer Tempel mitgebracht haben, ‚unter der Bedingung, dass’ sie bei der Rückkehr des Messias wieder dorthin zurückgebracht werden. Natürlich gibt es auch bodenständigere Erklärungen für die Herkunft des Namen – mutmasslich soll sie auf den Ruinen einer noch älteren jüdischen Gebetsstätte erbaut sein.

Die Altneu Synagoge. Foto Prague City Tourism

Um antisemitischen Hetzen vorzubeugen, wurde der eine oder andere jüdische Gelehrte schon zu Beginn der Neuzeit kreativ – zumindest, wenn man einer weiteren Sage, dem „Golem“, Glauben schenken will. Wie in weiten Teilen Europas wurden die Juden auch in Prag unter der sogenannten Ritualmordlegende beschuldigt, angeblich das Blut von Christenkinden für das Backen der Matzen für ihr Pessachfest zu benutzen. So absurd das heute klingen mag, damals gab die Kirche unter dieser Anklage ihren Segen, Juden massenhaft zu verfolgen und zu ermorden. Jehuda ben Bezal’el Löw, ein im 16. Jahrhundert lebender Rabbiner aus Prag, soll eine Lehmfigur zum Leben erweckt haben, die seine Gemeinde vor diesen Gerüchten beschützte. Nachts soll das Golem durch die Strassen gestreift sein, und wortwörtlich darüber gewacht haben, dass christliche Bürger keine toten Kinder ins Judenviertel warfen, um ihnen anschliessend das teuflische Vergehen anzuhängen. 1592 wurde schliesslich unter Kaiser Rudolf II. versprochen, Anschuldigungen jener Art zu bestrafen. Das Golem wurde nicht mehr benötigt, und der Legende nach liegen seine Lehmüberreste, in Gebetsmänteln und Schriftrollen eingedeckt, bis heute auf dem Dachboden der Altneu-Synagoge in Prag.

Das Ghetto in Venedig

Im Jahre 1516 wurden 700 in Venedig lebende Juden auf eine Insel in der Cannaregio isoliert. Wo sich davor ein Zentrum für Metallgiesserein befand (in venezianischem Dialekt bedeutet Metallguss ‚gheto’), entstand nun das erste geschlossene Ghetto Europas. Die Bewohner mussten unter strengen Regelungen leben, welche den gesamten Alltag bestimmten, und durften im Austausch dafür frei und geschützt ihre Religion praktizieren. Im Zuge weiterer Einwanderungsströme wurde die Siedlung auf zwei angrenzende Wohngebiete ausgedehnt, und Mitte des 17. Jahrhundert erreichte sie eine Bevölkerung von über 5.000 Menschen – auf 9 Quadratmeter pro Person. Immer wieder argumentierte der Stadtrat, dass die ‚Christusmörder’ es nicht verdienen würden, in ihrer Republik eine Heimat zu finden, doch der venezianische Pragmatismus siegte: sie waren in ihrer Funktion als Kreditgeber – einer der wenigen Berufe, die sie ausüben durften – essenziel für das Funktionieren des Staates. 1797 wurde das Judenviertel schliesslich unter Napoleon geöffnet.

Campo de Gheto Novo. Foto Didier Descouens, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26020929

Einige Faktoren führten dazu, dass Juden, selbst nach der Etablierung des Ghettos, vermehrt nach Venedig einwanderten. Neben dem Ritualmord beschuldigte man sie in weiten Teilen Europas auch der Brunnenvergiftung und machte sie für den Ausbruch des „schwarzen Todes“ – der Pest – verantwortlich. So kam es zu Zeiten der Pest zu weiteren Verfolgungen – in Erfurt wurden im Frühjahr 1349 zum Beispiel über 3000 Juden in ihren Häusern verbrannt. Im 14. Jahr-hundert ereignete sich eine Massenflucht, vor allem aus dem Heiligen Römischen Reich. Ein weiterer Strom folgte Ende des 15. Jahrhunderts aus dem spanischen Territorium, welches nach einer von Koexistenz ausgezeichneten islamischen Regierung in die Hände der katholischen Spanier fiel. 1478 genehmigte Papst Sixtus IV. eine Inquisition – Verfolgung der ‚Häresie’. Juden und Muslime wurden fortan gezwungen, das Land zu verlassen, oder zu konvertieren. Einige dieser Flüchtlinge siedelten sich in der venezianischen Republik an – ein vergleichsweise toleranter Ort, denn dort herrschte Glaubensfreiheit. Obwohl sie ins Ghetto eingesperrt wurden, erging es ihnen besser, da sie gleichzeitig den Schutz der Regierung vor zivilen antisemitischen Ausschreitungen genossen. Michaela Zanon, die Leiterin des Jüdischen Museums von Venedig, erzählt: „Hier waren früher richtige Holztore. Sie wurden morgens geöffnet, […] und abends […] nach Sonnenuntergang wieder geschlossen. Es gab christliche Wächter, die kontrollierten, dass [nachts] weder Juden heraus-, noch Christen hineingingen. Es sei denn, es handelte sich um jüdische Ärzte, die nachweisen konnten, dass sie zu einem Kranken gerufen waren.“

Spanische Synagoge von innen. Foto Museo Ebraico di Venezia.

Die Museumsdirektorin findet ausserdem passende Worte, die den Kontrast zwischen dem jüdischen Mittelalter und der Aufklärung in Italien aufzeigen: „Die meisten italienischen Synagogen sind nach der Emanzipation gebaut worden: Sie sind sehr imposant, sehr gross, sehr reich. Aber sie haben nicht denselben historischen Wert wie diese hier, die zeigen, wie die Verhältnisse damals waren – sehr versteckt, sehr verschlossen aber sehr wichtig.“

Während des 16. Jahrhunderts wurden in Venedig für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen insgesamt fünf Synagogen gegründet, sogenannte ‘Scuolas’ (wie das jiddische ‘Schul’). 1528 entstand die grosse deutsche Synagoge. Vier Jahre später folgte die Kanton Synagoge, die mutmasslich nach einer Familie benannt wurde. In den folgenden Jahrzenten wurde ausserdem die Levantiner Synagoge, die Italienische Synagoge und die Spanische Synagoge gegründet. Von aussen sind die ‘Scuolas’ nicht zu erkennen, da sie in normale Wohnhäuser eingebaut wurden, doch von innen bezaubert jede einzelne mit prächtigen Ausstattungen. In der Kanton Schul befinden sich beispielsweise in dieser Form einzigartige Wandtafeln, die bekannte biblische Episoden darstellen; und die spanische Synagoge, die grössten von allen, wurde im typisch barocken Stil eingerichtet.

2 Kommentare

  1. Hier wird wieder das längst schon überholte Narritiv vom” goldenen” Al Andalus bemüht.Inzwischen gibt es genug Literatur die dies als Legende entlarvt.Zum Beispiel S. Kohlhammer:”Islam und Toleranz”oder: “Das Land wo Blut und Honig floß”.Die Flucht Maimoides aus diesem”Paradies “war sicher nicht grundlos.Schade ,dass ihre ansonsten so faktenbasierte Publikation darauf hereinfällt.

  2. In der Tat ist diese Geschichte vom ‚goldenem Zeitalter’ der Juden in Spanien unter islamischer Regierung ziemlich weit her geholt und auch zur Genüge entkräftet. Ich gehe allerdings davon aus, es handelt sich dabei einfach um die Meinung eines Autors.

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