Wenn die Hamas dein Nachbar ist

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Ausschreitungen im Gazastreifen. Abed Rahim Khatib/Flash90
Ausschreitungen im Gazastreifen. Abed Rahim Khatib/Flash90
Lesezeit: 10 Minuten

Der Kibbutz Nahal Os liegt nur wenige hundert Meter vom Gazastreifen entfernt. Der Konflikt rund um den Landstrich ist für dessen Bewohner Alltag, und erklärt auch, weshalb Israels Armee an der Grenze so hart vorgeht.

 

Gazastreifen – das Wort ist ein geographischer und politischer Begriff, und Synonym für Konflikt und Leid. Aber in diesen Tagen beschreibt Gaza vor allem einen Geruch. In Nahal Os, ein Kibbutz nur 700 Meter von der Grenze mit Gaza entfernt, kann man die ganze Tragik dieses Ortes mit einem Atemzug olfaktorisch erfassen. Der erdige Duft von Weizenfeldern, die sich bis zum Horizont erstrecken, mischt sich mit dem süssen Aroma von Pinien und dem scharfen Parfüm der Eukalyptusbäume. Doch all das wird vom beissenden, bedrohlichen Geruch von Asche und Feuer überdeckt. Er stammt von riesigen schwarzen Flecken inmitten der goldenen Äcker, verursacht durch zig Brände, die Palästinenser aus Gaza in vergangenen Wochen mit Drachen legten, an denen sie Brandsätze befestigt hatten. Wenn die Brise vom Meer besonders stark weht, bringt sie den Gestank von den Abwässern mit, die im nahen Sadschaijah jenseits der Grenze durch die Strassen fliessen, oder von der Müllhalde dort. „An Wochenenden kommt manchmal auch der Geruch von Tränengas dazu, den der Wind in Schwaden von den Zusammenstössen bei den Demonstrationen an der Grenze zu Gaza her trägt”, sagt Yael Raz Lachiani, Sprecherin von Nahal Os. „Dann kratzt der Hals, Kinder kriegen Tränen.” Aber das ist im Vergleich zu den Gefahren, mit denen sie im Alltag umgehen muss, eigentlich harmlos.

Das Versuchslabor der Hamas

Wohl kaum ein Ort in Israel litt mehr unter Terror aus Gaza als Nahal Os. Als Islamisten im Jahr 2000 begannen, Raketen und Granaten auf israelische Ortschaften abzuschiessen, war Nahal Os ihr erstes Ziel. Im Jahr 2011 schoss die Hamas erstmals eine Panzerabwehrrakete aus dem Landstrich ab, und traf einen Schulbus von Nahal Os. Drei Jahre später stieg ein Terrorkommando 400 Meter südlich von Nahal Os aus einem Terrortunnel und tötete fünf Soldaten. Und seit Wochen probieren die Islamisten 700 Meter westlich vom Kibbutz eine neue Taktik: Massenproteste direkt an der Grenze unter dem Motto „grosser Marsch der Rückkehr”. Deren erklärtes Ziel: mit Tausenden Flüchtlingen den Grenzzaun durchbrechen, um ins „historische Palästina” zurückzukehren. Anlass für die Proteste war die Verlegung der amerikanischen Botschaft nach Israel. Am Höhepunkt der Wochen langen Kampagne standen Montag 50.000 Palästinenser tausenden israelischen Soldaten gegenüber. Die schossen letztlich scharfe Munition, um die Grenze zu schützen. Mehr als 60 Palästinenser starben, rund 2700 wurden verletzt. Das Blutvergiessen hat internationale Empörung und eine diplomatische Krise mit der Türkei ausgelöst. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen verurteilte am Freitag den „unverhältnismässigen, wahllosen Gebrauch von Gewalt von Seiten des israelischen Besatzers gegen palästinensische Zivilisten” und forderte, die blutigen Ereignisse dieser Woche unabhängig untersuchen zu lassen. Doch wer Nahal Os einen Besuch abstattet, versteht besser, weshalb Israels Armee so hart agiert. Nicht umsonst nennt Lachiani ihren Wohnort „das Versuchslabor der Hamas.”

Nahal Os war schon immer ein bedrohter Ort. Der Kibbutz wurde 1951 als lebendes Bollwerk gegen die „Fedayun” gegründet, palästinensische Guerillas. Ägypten, das den Gazastreifen damals kontrollierte, schickte diese nach der Staatsgründung Israels im Rahmen einer „Politik der Nadelstiche” immer wieder über die Grenze um Attentate zu begehen. Vierzig Soldaten errichteten nach Abschluss hier einen Kibbutz, ein landwirtschaftliches Kollektiv. Das verkörperte in den fünfziger Jahren das ideologische Ideal Israels. Tagsüber bearbeiteten die Männer als Bauern die Felder, nachts verteidigten sie sie vor Übergriffen, nach Feierabend verwalteten sie in demokratischen Abstimmungen ihr gemeinsames Vermögen. Die Lage forderte einen hohen Blutzoll: Sechs der vierzig Gründer wurden von Fedayun ermordet. Nahal Os, dessen Name übersetzt „Fluss der Kraft” bedeutet, wurde so Symbol der heroischen Wiederauferstehung des jüdischen Volkes nach dem Holocaust, Sinnbild der Metamorphose vom Opfer zum wehrhaften Israeli, der dem Hass zum Trotz seinen neuen Staat errichtet.

Kindergarten mit 40 Zentimeter dicker Betondecke

Dieser Mythos beflügelt die Bewohner von Nahal Os bis heute. Lachiani spricht von „zionistischer Motivation”, die viele bewege, trotz aller Gefahren hier zu wohnen. „Im Jahr 2018 die bedeutet Zionismus, die Wohnorte zu stärken, die Teil des international anerkannten Territoriums Israels sind, es aber dennoch schwer haben.” Für manche bedeutet das beispielsweise, sich eine Gasmaske anzuziehen, bevor sie mit ihren Traktoren in die Felder fahren, um die Flammen zu bekämpfen die ihre Ernte vernichten. Oder besonders viel Geld in ihre Häuser zu investieren, um in ihnen raketensichere Räume einzurichten, mit besonders dicken Wänden und Türen, die Druckwellen von Explosionen standhalten. Die Folgen der ständigen Bedrohung finden sich hier im Alltag: Völlig unbekümmert schlendert ein Pärchen mit Kinderwagen an einem zimmergrossen, bemalten Betonwürfel vorbei, den die Armee neben dem Spielplatz aufgestellt hat. Er dient Kindern als Zuflucht, sollten wieder Raketen fallen. In Krisenzeiten spielen sie ohnehin im Jugendzentrum, um das die Armee hohe Betonwände errichtet hat, um es vor Einschlägen zu schützen. Der Kindergarten wurde im Vorhinein so gebaut, dass er Artilleriebeschuss widersteht, samt 40 Zentimeter dicker Betondecke, ebenso dicken Wänden und Fenster, die kein Schrapnell durchlassen.

Eine bemalte Schutzwand vor dem Kindergarten im Kibbuz Nahal Os. Foto Dr. Avishai Teicher Pikiwiki Israel, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37324448

Dennoch sieht die 41 Jahre alte Mutter von drei Kindern viele Gründe, sich für ein Leben am Gazastreifen zu entscheiden: Sie ist hier geboren, verliess den Kibbutz zwischendurch für sieben Jahre. Doch 2007 kamen sie und ihr Mann mit ihren Kindern zurück: „Wir wollten nicht, dass unsere Kinder in Tel Aviv aufwachsen. Sie sollten frei im Grünen herumtollen können.” Zudem übe die Gemeinschaft einen grossen Reiz aus: „Wenn man 700 Meter vom Grenzzaun entfernt lebt, dann schweisst diese Gefahr von aussen alle zusammen. Wir helfen uns gegenseitig viel mehr als in anderen Orten.” Es gibt auch finanzielle Anreize: Wer an der Grenze lebt, muss keine Einkommenssteuer zahlen. Ministerien beteiligen sich an den Gehältern, die hier angesiedelte Firmen ihren Angestellten überweisen.

Dennoch bedrohte nicht nur Terror den Kibbutz, sondern auch finanzielle Not. Heute sind nur knapp 20 der 440 Einwohner noch in der Landwirtschaft tätig, die anderen sind Krankenschwestern, Ingenieure, Graphiker. Sie leisten eine Beitragszahlung von umgerechnet 300 Euro und einen Anteil ihres Einkommens als „gemeinsame Bürgschaft”. Von der ursprünglichen sozialistischen Kibbutzideologie, die niemand Privatbesitz zustand, ist nichts mehr übrig.

Das ermöglichte es Menschen wie Ilan Morag, vor vier Jahren dem Kibbutz beizutreten und hier seine Firma „Doneg” anzusiedeln, die sich auf Kommunikationstechnologie spezialisiert. Dabei könnte der 57 Jahre alte ehemalige Berufssoldat nur von seiner Rente leben: „Als ich allein als Berater arbeitete, verdiente ich das Vierfache. Aber was bringt das? Noch ein bisschen mehr Geld auf dem Konto? Wenn man nicht etwas für andere tut, macht das Leben keinen Spass.” Heute leitet er Doneg fast wie einen alten Kibbutz: „Alle 14 Mitarbeiter verdienen dasselbe Gehalt (umgerechnet 3000 Euro), egal ob Manager oder Angestellter. Am Ende des Jahres teilen wir uns den Profit.” Für eine Anstellung gibt es allerdings eine Bedigung: Nur wer hier wohnt bekommt einen Job.

Was brachte Morag ausgerechnet direkt an den Gazastreifen? „Ich liebe die Ruhe hier” sagt er und lacht. Denn „genau eine Woche, nachdem wir herzogen, brach der Krieg mit der Hamas aus.” Der dauerte knapp zwei Monate. Dabei schlugen im Kibbutz 270 Raketen und Granaten ein. Es war die schwerste Zeit seit der Gründung des Dorfes. Vor allem als ein vier Jahre alter Junge im Granatenhagel umkam: „Das haben viele nicht verwunden”, sagt Lachiani, und kämpft gegen die aufsteigenden Tränen. 17 Familien verliessen danach den Kibbutz. Lachianis ältester Sohn, der heute 13 ist, wollte weg. Aber sie sagte ihm: „Man verlässt sein Heim nicht.” Anfangs fiel ihr das schwer: „Ich musste erst einmal wiederentdecken, warum das hier eigentlich mein Heim ist.” Der Kibbutz habe ausgesehen „wie ein Trümmerhaufen, Freunde waren nicht mehr da.” Erst allmählich habe sie „wieder verstanden, warum ich mich diesem Ort so verbunden fühle.”

Dieses Zugehörigkeitsgefühl hat einen hohen Preis: „Meistens beherrsche ich meine Angst, aber manchmal beherrscht die Angst mich”, sagt Lachiani. Wie in diesen Tagen, wenn die Hamas direkt nebenan tausende junge Männer an die Grenze schickt: „Nach den Raketen, den Attentaten, dem Beschuss unseres Schulbusses, gibt es diese neue Angst: dass es ihnen gelingen könnte, den Zaun zu überqueren. Entweder in Massen, oder nur zwei drei Männer mit Messern. Das würde für ein Blutbad genügen.” Ihre Nerven liegen blank: „Ich lasse meine Kinder nicht mehr draussen spielen. Ich will nicht, dass ihnen ein brennender Drachen auf den Kopf fällt.” Nahal Os ist so nah an Gaza, dass es keine Zeit für Vorwarnung gibt. Israels Raketenabwehr kann hier nichts ausrichten. Deshalb begleitet eine weitere Angst Lachiani: „Schiesst die Hamas vielleicht plötzlich wieder Raketen ab?” Also schlafen ihre Kinder seit Tagen im raketensicheren Zimmer, mit dem hier in jedes Haus bewehrt ist.

Morag ist indes nicht aus der Ruhe zu bringen. Die schöpft er aus der starken, unübersehbaren Armeepräsenz. An der Einfahrt zum Kibbutz parken Panzer, ständig patrouillieren schwer bewaffnete Soldaten zwischen Häusern und Feldern. Über dem Esssaal hängt ein Aufklärungszeppelin im Himmel. Hin und wieder tönt das Surren einer Drohne oder das Knattern eines Hubschraubers durch die Luft. „Die Armee macht gute Arbeit. Die Chance, dass ein Hamas-Terrorist hier eindringt, ist gering”, meint Morag. Neuerdings stehen hier auch mehrere Fahrzeuge der Feuerwehr in Bereitschaft. Bis zu 12 Mal am Tag sind sie inzwischen im Einsatz, um die Brände zu löschen, die die an Drachen befestigten Brandsätze aus Gaza in den Feldern auslösen. Dann gesellen sich Jugendliche aus dem Kibbutz zu den Feuerwehrmännern, um die Flammen zu bekämpfen, während die Bauern mit den Gasmasken auf ihren Traktoren grossflächig ihre Weizen niederwalzen, um dem Feuer die Nahrung zu nehmen.

Trotzdem will Morag nirgend anders in Israel mehr leben. In Jerusalem fürchte er stets, von jemand niedergestochen oder mit Steinen beworfen zu werden. Er hat zwei Attentate miterlebt – mitten in Tel Aviv. Nur hier, direkt neben Gaza, fühle er sich sicher. Er hat nicht nur seine Angestellten von den Vorzügen Nahal Os’ überzeugt: „Meine Tochter ist mit meinen vier Enkeln hergezogen, auch einer meiner Söhne. Für sie ist das hier das Paradies”, sagt Morag. Laut Lachiani verlassen zwar viele junge Leute den Kibbutz, nicht nur wegen der Sicherheitslage: „Sie wollen andernorts arbeiten, oder nicht so nah bei ihren Eltern wohnen.” Zugleich aber wurden in den vergangenen 18 Monaten 16 neue Familien aufgenommen. Überall  sind Zeichen dieses Wachstums erkennbar: Gerade erst wurde ein neues Viertel mit Villen für die Neulinge fertiggestellt. Morag zog erst vor einem Monat in sein Haus ein, in seinem Garten wächst noch kein einziger Grashalm. Aber er ist sichtbar zufrieden: „Wir müssen unser Haus nicht absperren. Schau die Fahrräder der Kinder, die hier herumstehen. Keines ist abgeschlossen. Wir fühlen uns hier alle sicher.” Bald wird auch das Kibbutz-eigene Schwimmbad eröffnet werden, nur wenige hundert Meter von Gaza entfernt. Das erfreut besonders die rund 100 Studenten, die hier inzwischen zur Miete wohnen und das Nachtleben im Dorf beleben. „Wir haben eine gute Kneipe”, sagt Morag stolz. Und Lachiani sagt mit einem Lächeln, dass so manch ein Student sich in den Kibbutz oder eines seiner Mitglieder verliebe, und später hier bleibe.

Hamas Aktivisten tragen keine Uniform

Lachiani blickt mit Zuversicht in die Zukunft. Wen man sie auf Gaza anspricht, senkt sie indes betrübt ihren Blick: „Es schmerzt mich um jeden Menschen, der dort an der Grenze erschossen wird”, sagt sie. Aber die Armee tue, was notwendig sei, um die Zivilisten hier in Nahal Os zu schützen. „Hamas Aktivisten tragen nun mal keine Uniform, was sie nicht davon abhält, Attentate zu begehen.” Laut Angaben von Hamas-Sprechern waren mindestens 50 der 62 Toten vom Montag Mitglieder der Terrororganisation. Aber besonders grämt Lachiani, dass „unsere Regierung keine Strategie verfolgt. Alles ist seit zehn Jahren dasselbe. Sie könnte die Belagerung Gazas lockern, das Leben der Bewohner dort leichter machen, ohne unsere Sicherheit zu gefährden”, meint sie. Morag glaubt auch nicht an Wandel: „Die Führungen haben keinen Mut. Israel als starker Staat sollte mehr Initiative zeigen statt zu reagieren.”

Trotz des seit Jahren anhaltenden Terrors empfindet Lachiani keinen Hass: „Ich sage meinen Kindern immer wieder, dass man zwischen den Bewohnern Gazas und der Hamas unterscheiden muss.” Jugenderinnerungen helfen ihr dabei: „Mein Vater beschäftigte in den 1980er Jahren 30 Palästinenser auf seinem Acker. Ich pflanzte mit ihnen zusammen Wassermelonen.” Man besuchte einander zuhause. Als sie heiratete, kamen die Arbeiter aus Gaza und brachten Geschenke mit: „Wir fuhren zu ihnen an den Strand, assen in arabischen Restaurants, reparierten dort unsere Fahrräder.”

Auch Morag hat „keinen Platz für Hass, nur Mitleid. Die Menschen in Gaza leben unter einer Diktatur, die sich die ganze Zeit an ihnen vergeht. Ihre Führung hat keine nationale oder religiöse Vision, sondern ist einfach nur korrupt.”

Lachiani und Morag wollen, dass den Menschen in Gaza geholfen wird: „Ich weiss, dass die Hamas alles was wir tun für ihre Zwecke missbraucht. Aber ich bin mir sicher, dass sie gestürzt werden würde, wenn es den Menschen dort besser ginge”, meint Morag. Die Islamisten fürchteten den Frieden: „Was hätte die schon zu bieten, wenn es keinen Krieg mehr gäbe?” Auch Lachiani spricht von der Hoffnung, dass Menschen aus Gaza sie eines Tages wieder ihren Kibbutz besuchen können: „Das wünsche ich mir von ganzem Herzen”, sagt sie.

Über Gil Yaron

Dr. Gil Yaron ist Buchautor, Dozent und Nahostkorrespondent der Tageszeitung und des Fernsehsenders WELT, sowie der RUFA, der Radioabteilung der dpa. Er schreibt ebenso für die Straits Times in Singapur, und arbeitet als freier Analyst in zahlreichen Fernsehsendern.

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