Judenhass und Nationalismus – Über das Holocaustgesetz der polnischen Regierung

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Hauptausstellung des Museums für Geschichte der polnischen Juden in Warschau.
Hauptausstellung des Museums für Geschichte der polnischen Juden in Warschau. "Holocaust"-Galerie. Foto Magdalena Starowieyska, Dariusz Golik, CC BY-SA 3.0 pl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36417149
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Das Holocaust-Gesetz der gegenwärtigen polnischen Regierung verstört Juden weltweit. Viele polnische Juden sind im Verlauf des letzten Jahrhunderts aus Polen vertrieben worden oder ausgewandert.

 

von Sylke Kirschnick

Es ist richtig, dass der Staat Polen während der nationalsozialistischen Besatzung von 1939 bis 1945 als solcher gar nicht existierte. Es ist richtig, dass die NS-Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka, Majdanek, Sobibor etc. von den deutschen Besatzern eingerichtet und betrieben worden sind und damit keine polnischen Lager waren. Es ist richtig, dass die systematische Verfolgung und Vernichtung der Juden Europas während des Zweiten Weltkriegs eine nationalsozialistische Unternehmung der deutschen Besatzer gewesen ist. Nur war und ist Judenhass nicht spezifisch deutsch. Auch nicht spezifisch polnisch, litauisch, ukrainisch, ungarisch, russisch, kroatisch, bosnisch, französisch, spanisch, auch nicht europäisch, arabisch, persisch etc. Judenhass war religiös, später ideologisch begründet und hatte immer auch soziale, wirtschaftliche, politische etc. Motive. Man konnte und kann ihn selbst in asiatischen Gesellschaften wie Japan finden, weil der Shintoismus mit seiner modernisierungsfeindlichen Haltung die unangenehmen gesellschaftlichen Folgen und Verwerfungen moderner Wirtschaftsformen den Juden anlastete.

Für die Shoa sind in erster Linie diejenigen Deutschen verantwortlich, die sie betrieben und ermöglicht haben. Doch fand sich unter Deutschen ebenso wenig eine genügend grosse Anzahl Menschen, die widersprochen oder Widerstand geleistet hätten, so dass das Vertreiben, Plündern, Morden gestoppt worden wäre, wie unter Polen, Litauern, Ukrainern, Ungarn, Rumänen, Franzosen, Belgiern, Niederländern etc. Selbstverständlich hat es Polen wie einige Vertreter der Untergrundarmee, die Juden gerettet haben, oder einen Jan Karski gegeben. Er ist der Weltöffentlichkeit durch Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoa“ aus dem Jahr 1985 bekannt. Karski hatte versucht, die westlichen Alliierten über die Mordmaschinerie der deutschen Besatzer, über den millionenfachen Mord an europäischen Juden in den Vernichtungslagern aufzuklären und sie zum Eingreifen zu bewegen. Vergeblich.

Judenhass und Nationalismus

Im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielten Ideologien eines extremen Nationalismus in Verbindung mit Welterlösungsfantasien eine tödliche Rolle. Sie hatten zwei Weltkriege zur Konsequenz. Im Zuge des 1. Weltkriegs fand auf dem Gebiet der heutigen Türkei der Völkermord an den Armeniern statt. Vielen Historikern zufolge war er die „Blaupause“ für die Shoa. Zumindest Adolf Hitler glaubte sich darauf verlassen zu können, dass die Weltöffentlichkeit die Armenier vergisst. Das war nicht der Fall. Franz Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ erschien 1933, im Jahr von Hitlers Machtantritt. Werfels Armenier-Roman wurde und ist ein Welterfolg; die Armenier, die in aller Welt verstreut leben, haben inzwischen einen eigenen Staat.

In den zeit- und teilweise von Preussen und Österreich besetzten, verwalteten und regierten Ländern, die sich in der Zwischenkriegszeit als eigenständige Staaten etablierten oder zu sowjetischen Volksrepubliken wurden, kam es am Ende des 1. Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren wiederholt zu grausamen Pogromen an den ortsansässigen Juden. Über zwei Jahrzehnte vor der Shoa. Dieser Judenhass war teils religiös, teils nationalistisch und immer zugleich sozial und wirtschaftlich motiviert. Es ist unmöglich, die verschiedenen Gründe sorgfältig voneinander zu trennen. So wie es viele unterschiedliche Akteure gab, so waren auch die Motive ihrer Beteiligung unterschiedlich. Was allen diesen Pogromen gemeinsam ist, war die Tatsache, dass sie bereits unmittelbar nach ihrem Vollzug geleugnet worden sind und wenn das nicht möglich war, den Juden eine Mitverantwortung untergeschoben wurde. Sei es, dass angeblich bewaffnete Juden provoziert hätten, sei es, dass Juden angeblich Verrat an der nationalen Sache geübt, für einen Feind spioniert hätten oder als Zionisten nicht vertrauenswürdig gewesen wären. Das Muster von Leugnung und/oder Schuldverschiebung zieht sich durch die Geschichte der Judenfeindschaft wie ein immer neu gesponnener und aufgewickelter Faden. Insofern überrascht das neue Gesetz in Polen nicht.

Eine zerstörte Welt

Der deutsch-jüdische Schriftsteller Arnold Zweig hatte im 1. Weltkrieg als Frontsoldat gedient. Wie viele seiner Kollegen, unter anderem der deutsch-jüdische Schriftsteller Alfred Döblin, war er mit nationaler Begeisterung für das deutsche Kaiserreich in den Krieg gezogen. Und wie bei vielen seiner Kollegen, so folgte auch bei ihm bald die Ernüchterung. Erschüttert hatte ihn aber vor allem die Begegnung mit dem Schicksal der Juden im damaligen Osteuropa. Im Frühjahr 1918 – noch tobte der Kampf – kündigte er in einem Brief an Martin Buber das Erscheinen eines Buches über sie an.

Im Jahr 1920 kam „Das ostjüdische Antlitz“ heraus. Es war ein Buch mit etwas über 50 Zeichnungen von Hermann Struck und dazugehörigen Texten von Arnold Zweig. Der Schriftsteller hatte es seinen Eltern gewidmet. Das Wort „Antlitz“ ist den Psalmen der Hebräischen Bibel entlehnt. Die geläufige deutsche Übersetzung von Leopold Zunz, aber auch die von Martin Buber und Franz Rosenzweig gebrauchen es in Verbindung mit dem Ewigen. Es ist deshalb nicht phänotypisch misszuverstehen. Zweig schreibt auch im übrigen Text eine mit Psalmendeutsch durchwirkte Sprache. Deshalb mag die Darstellung auf manche Leser idealisierend wirken. Es fehlen auch die bedrückenden Züge, die mit einem Leben in materieller Armut, gesellschaftlicher Ausgrenzung und Randständigkeit verbunden sind. Es ging aber nicht um Realismus. Zweig und Struck  wählten die Möglichkeit der zeichnerischen und nicht der fotografischen Darstellung, die sich in Deutschland nach 1900 in den Massenmedien durchgesetzt hatte. Das erlaubte dem Graphiker eine unvermittelte Verbindung von Wahrnehmung und Darstellung, weil sich zwischen seinem Zeichenstift und dem Abbild keine weitere Apparatur schob. Schrift und Zeichnung waren gleichrangig. Im gedruckten Buch sah man später nicht Zweigs Handschrift, sondern ein reproduziertes Typoskript, und die Zeichnungen Strucks waren ebenfalls Reproduktionen. Doch beider durch ihre eigenen westlichen Erfahrungen und die Kultlyrik vorgeformte Wahrnehmung und Darstellung jüdischen Lebens in Osteuropa ist heute ein seltenes ästhetisches Dokument.

Noch im Erscheinungsjahr glaubte Zweig, der aktuelle Zeitpunkt sei ihrer beider Buch günstig. An Struck schrieb er, dass dafür schon die „verfluchten Polen“ mit ihren Gewaltausbrüchen „sorgen“ würden. Im Vorwort der Erstausgabe von 1920 klagen er und Struck Polen wegen der Pogrome an, die gegen die jüdische Bevölkerung stattgefunden hatten. Zweig prophezeite den nachfolgenden polnischen Generationen Schamgefühle wegen der Plünderungen, Morde und Gewaltattacken gegen unschuldige Nachbarn, Kinder, Frauen, Männer, Junge und Alte, allesamt Zivilisten. Er sprach auch von denjenigen Polen, die sich nicht an Pogromen beteiligt hatten, sie nicht billigten, sie sogar verabscheuten. Er hielt die Anzahl dieser polnischen Zeitgenossen für zu klein, um dem jeweiligen lokalen Wüten Einhalt zu gebieten. Zweig nennt keine konkreten Ereignisse.

Bekannt und gut dokumentiert wurden die Pogrome von Lemberg, Wilna, Pinsk etc. Beteiligt waren neben Soldaten zumeist Vertreter kommunaler Behörden, Vertreter verschiedenster politischer Parteien und Teile der Zivilbevölkerung. Eine Rolle spielte damals bereits der Zionismus, der den Nationalisten als Vorwand für den grundsätzlichen Verdacht der Kollaboration mit dem Feind diente, seien es Polen, Russen, Ukrainer, Litauer, Ungarn, Österreicher, Deutsche etc. Deshalb klagte und rief Zweig auch immer wieder Europa an.

Wie Struck war Zweig Zionist. Aber auch Sozialist. Als solcher verkannte er den Stellenwert der Judenfeindschaft. Sie war kein Deckmantel für fehlgeleitete soziale Verteilungskämpfe. Sie war stattdessen das handlungsleitende Motiv bei den Gewaltexzessen gegen die einheimischen Juden in den Städten Osteuropas. Zu einer zweiten Auflage des „Ostjüdischen Antlitz“ schrieb Zweig im Frühjahr 1922 ein ergänzendes neues Vorwort. Bekannt geworden waren inzwischen die Pogrome, die von ukrainischen und ungarischen Nationalisten initiiert worden waren. Sie hatten Zweig schwer beunruhigt. In einem Brief an Struck wetterte Zweig zunächst gegen die „furchtbaren viehischen Saukerle“, die jüdische Zivilisten ermordeten, und gegen die er sich eine jüdische Armee wünschte, um dann resigniert festzustellen: „Um uns Juden ist stets Mittelalter hier in Europa.“

Dem Judenhass die Stirn bieten

In Deutschland selbst kam damals das Erstarken der Rechtsradikalen und die politischen Morde an jüdischen wie nichtjüdischen Politikern und Repräsentanten der Weimarer Republik wie Gustav Landauer, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Kurt Eisner, Matthias Erzberger oder Walther Rathenau hinzu. All das ebnete, von heute aus gesehen, der Shoa den Weg. Bis zu seiner Vertreibung aus Deutschland sollte die Judenfeindschaft ein Thema in Zweigs Schriften bleiben. Den 2. Weltkrieg verbrachte er in der Emigration im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina. 1948 kehrte er nach Deutschland zurück und liess sich in Ost-Berlin nieder, wo er 1968 starb. Seinen Irrtum über den Sozialismus hat er zeitlebens nicht korrigiert.
Die jüdische Welt, die Zweig und Struck gezeichnet hatten, war in der Zwischenkriegszeit existentiell gefährdet und tödlichen Pogromen ausgesetzt gewesen. In der Shoa wurde sie vernichtet. Das Pogrom vom Juli 1941 in Jedwabne aber wurde von Polen im Windschatten der deutschen Besatzer begangen. Der Historiker Jan T. Gross hat diesen Mord an den ortsansässigen Juden erforscht. Leider sollte auch dieses Massaker nicht das letzte bleiben. Das Pogrom vom Juli 1946 in Kielce war und ist ein mörderischer Beleg dafür, dass die Ritualmordlegende noch mobilisierende und tödliche Wirkung entfalten konnte. Auch nichtjüdische Polen, die einschritten, wurden getötet.

Die überlebenden Juden aus den Vernichtungslagern wurden auch in Polen nicht mit offenen Armen empfangen. Als im Frühjahr 1968 eine Welle antizionistischer Propaganda und judenfeindlicher Hetze das Land überschwemmte, verliessen Tausende jüdischer Staatsbürger Polen. Vielleicht wird eine jüngere polnische Generation der aktuellen Judenfeindlichkeit erfolgreicher die Stirn bieten. Deutschland und Europa hatten und haben es nötig.

Dr. Sylke Kirschnick forscht und lehrt seit mehr als einem Jahrzehnt zum Orientalismus, zum Kolonialismus, zu jüdischen Autor/innen und zum Antisemitismus.