Nachruf für eine couragierte Schriftstellerin: Nava Semel

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Foto Isaac Shokal - Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64518679
Foto Isaac Shokal - Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64518679
Lesezeit: 6 Minuten

Am Samstag, den 02. Dezember 2017, ist die erfolgreiche israelische Schriftstellerin, Journalistin, Bühnen- und Drehbuchautorin Nava Semel gestorben. Ihr bedeutendster Nachlass behandelt das Erbe ihrer Eltern – den Schatten der Generation, die den grauenhaftesten Genozid der modernen Zeit überlebte – den Holocaust.

 

von Michelle Wolf

Die Autorin von 16 Werken nahm sich thematisch immer wieder dem Zionismus-Shoa-Israel Geflecht an. Sie erzählt von individuellen Schicksalen und untersucht sorgfältig ihre Identität als Israelin in Zusammenhang mit der Vergangenheit. Das Schreiben war ihr Weg, zu verarbeiten, dass ihre Eltern in der Hölle sassen.

Eine Überlebende in zweiter Generation

„Wie hast du überlebt? Als ich 25 Jahre alt war, überkam mich der Drang, meiner Mutter diese Frage zu stellen. Eigentlich eine einfache. Nur vier Wörter. Aber es war undenkbar, jemals zuvor zu fragen. […] Ich öffnete die Tür zur Vergangenheit; zitternd, nahezu paralysiert.“ [Zitat aus „How did you survive?“]

Nava Semel ist im Israel der 50er Jahre geboren – ein ‚Sabra’. So nennt man die Generation an Kindern, die endlich im Staat Israel als Israeli/Israelin geboren werden sollten. Die Generation, deren Eltern einen harten, schmerzhaften Weg hinter sich gebracht hatten; zumeist alles aufgeben mussten, um Teil des jüdischen Staates zu werden. So auch Navas Eltern, die beide im nationalsozialistischen Europa überlebten.

Ihre Mutter Margalit (Mimi) Artzi entstammt dem Ort Bukovina, eine Landschaft, die sich heute über Rumänien und der Ukraine erstreckt. Zu ihrer Zeit galt das Gebiet als florierendes Zentrum der deutsch-jüdischen Kultur. 1944 wurde sie nach Ausschwitz deportiert. Yitzhak Artzi, Navas Vater, wurde in demselben Ort in einer hassidischen Familie geboren. Während der Shoah operierte er im zionistischen Untergrund. In Israel gab er sich der Politik hin; er war sogar vier Jahre lang Teil der Knesset. Mimi und Yitzhak bekamen zwei Kinder: 1949 wurde Shlomo Artzi geboren, welcher heute einer der bekanntesten israelischen Pop- und Rocksängers ist, und 1954 folgte Nava.

Nava, der ‚Sabra’, beschreibt, wie die israelische Identität keine war, die sich natürlich entwickelte, sondern eine, die wie eine Art Pflaster über der Vergangenheit aufgezwungen wurde. Die Kinder sollten sich von allen europäischen und klassisch jüdischen Traditionen abtrennen, denn diese hatten die Eltern verraten. Alles – Kleidung, Namen, Sprache, Kultur – sollte sofort nach dem Bild des neuen Hebräer angepasst werden; und niemand sollte zurückblicken, was jenseits des Mittelmeeres geschah. So wurde auch aus der Familie ‚Hertzig’ die Familie ‚Artzi’. Über den Horror der Shoah berichteten Schulen und Medien zwar schon, doch es wurde stets als sachliches, distanziertes Thema dargestellt; Navas Generation wurde eingetrichtert, sie wäre immun gegen die Vergangenheit. Es war unvorstellbar, sich mit einem Klassenkameraden darüber zu unterhalten, in welchen Lagern die eigene Familie verrottete – und doch lag das Gefühl stets in der Luft – das Gefühl, dass dieses auserwählte Neuland auf der Asche von sechs Millionen Auserwählten sitzt.

Die Schriftstellerin wollte dem Trauma, welchem sie und viele andere in ihrer Situation hilflos ausgesetzt waren, auf den Grund gehen: „Wie sollen wir wissen, wohin mit uns, wenn die, die vor uns waren, verloren sind? Wir, die die Namen der Toten tragen.“ Mit 25 Jahren traute sie sich also endlich, daraus eine persönliche Angelegenheit zu machen, und die Geschichte ihrer Mutter zu erfahren.

Auf der Suche nach Antworten

Nach diesem Schritt machte sich die junge Nava auf den Weg, tiefer zu graben, um herauszufinden, wie ihr jetziges Leben wirklich durch den Schatten der Vergangenheit beeinflusst wurde. Ihr Buch Gläserne Facetten. Zehn Geschichten (1985) bildet eine Kollektion von Kurzgeschichten, mit Kindern von Holocaust Überlebenden als Protagonisten. Jedes einzelne wird auf persönliche Weise von der Vergangenheit eingeholt, und muss lernen, dass es bereits sein ganzes Leben lang, wenn auch unbewusst, die Narben seiner Eltern getragen hat. Dieses Werk gilt als Klassiker in Israel, da es als erste israelische Prosafassung die zweite Generation thematisiert. 1990 wurde Gerschona in Erstauflage veröffentlicht. Es gewann im selben Jahr den nationalen jüdischen Buchpreis in den USA. Das Buch erzählt von dem Einzelkind Gerschona, welches, wie die Autorin, im Tel Aviv der 50er Jahre isoliert aufwächst. Sie bekommt eines Sommers Besuch von ihrem Opa, von dem sie nie wusste, dass er existierte – er gab ihren Vater als Baby ab. Ihr Leben sollte sich für immer verändern, denn sie und ihr Vater würden sich nun, beide auf ihre Weise, mit tief vorhandenen Lücken auseinandersetzen. Nava verfasste ausserdem Kinderbücher, wie Flugstunden. Die Geschichte des Mädchens Hadra, das der Enge ihrer Welt entkommen will. (1995) Die Geschichte gilt jenen Menschen, deren Zuhause zusammenbrach, und die Courage suchen, sich ein neues zu gestalten. Flugstunden wurde im israelischen Fernsehen herausgebracht und in ein Theaterstück umgewandelt.

Neben vielen weiteren literarischen Werken verfasste Nava auch selbst Theaterstücke, wie das erstmals 1986 herausgebrachte Einpersonenstück Das Kind hinter den Augen. Es wurde europaweit von vielen Radiosendern aufgefasst und gewann Mitte der Neunziger sogar den österreichischen Preis für das beste Radio-Drama. Als Theaterstück wird es bis heute weltweit aufgeführt.

Nava Semel – Israelis und Deutsche. von Deutsch-Israelische Gesellschaft bei Vimeo.

2001 veröffentlichte Nava Semel einen ihrer erfolgreichsten Romane Und die Ratte lacht. Er besteht aus fünf Teilen – zuerst wird die Geschichte einer Überlebenden erzählt, und danach wird diese, teils fiktiv und teils wissenschaftlich analysiert. Das dahinterstehende Schicksal ist das eines jüdischen Kindes, welches während des zweiten Weltkrieges alleine in einem Kartoffelkeller versteckt und Tag für Tag missbraucht wird. Die Geschichte berührte die israelische Autorin so stark, dass sie teilweise den Bezug zur Wirklichkeit verlor; wie sie in einem Interview mit dem rumänischen Blog „bookaholic“ mitteilt. Ihr eigener Körper reagierte auf die Qual, die ihr fiktiver Charakter spürte: Wenn das versteckte Kind nicht essen konnte, hatte auch sie nicht gegessen und wenn es nicht schlafen konnte, verspürte auch Nava Insomnie.

Wie leiten wir Erinnerung in die Zukunft?

Die Israelin leistete auch grossartige Arbeit als Journalistin. In sämtlichen Artikeln und Kurzgeschichten, die alle gebündelt auf ihrer Website verfügbar sind, beschreibt sie ausführlich die Atmosphäre in Israel während ihrer Jugend, der Umgang mit dem Holocaust und wie sie diesem ‚schwarzen Loch’ nachgeht. Ausserdem veröffentlichte Semel viele Texte zu anderen Themen, die ihr Leben prägten – wie zum Beispiel der Israel-Palästina Konflikt. Sie beschreibt die Problematik so: Das israelische Volk kehrte zurück zu seinen Wurzeln, doch erkennt nicht an, dass sich ein anderes Volk dort ebenfalls ansiedelte. Was nun geschieht, ist wie eine funktionsgestörte Familie – zwei Elternteile streiten sich um das Sorgerecht für ihr Kind. Die Journalistin verurteilt den terroristischen Charakter des palästinensischen Widerstandes stark, doch appelliert trotzdem, auf die Gemeinsamkeiten mit den Arabern aufzubauen, und eine friedliche, familiäre Lösung zu finden.

Historikerin, Mediatorin, und Aufklärerin – all diese Funktionen nimmt die israelische Autorin an. Und das nur getrieben vom Wunsch, die eigene Wahrheit herauszufinden. Bei ihrer Recherche zu Und die Ratte lacht stösst sie auf erwachsene Menschen, die sich, seit ihrer Kindheit, in einem unmöglichen Dilemma befinden – einerseits wollen sie mit jeder Kraft die quälende Vergangenheit vergessen, und andererseits sehnen sie sich zutiefst an die Erinnerung einer vollkommenen Welt. Bei Nava bewegt sich etwas.

„Mama, wie hast du überlebt?“ Ersetzen wir ‚wie’ mit ‚warum’ – Warum hast du überlebt? Denn diese Frage verfolgt Überlebende oft für den Rest ihres Lebens.“

Michelle Wolf entstammt einer Wiener Familie, ist in München aufgewachsen und lebt nun in Israel. Sie studiert Government an der IDC in Herzliya mit Spezialisierung auf Counter-Terrorism und Conflict Resolution.