Sieben Monate in der palästinensischen Folterhölle

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Foto Gil Yaron
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Sicherheitsdienste in Palästina sollen bis heute Landsleute foltern, weil sie mit Israels Geheimdienst kooperierten. Die Opfer haben in einem historischen Urteil nun eine Entschädigung erstritten.

 

Sie schlugen ihn mit Stöcken, bis er bewusstlos war. Seine Peiniger hängten ihn mit den Füssen an der Decke auf. Nächtelang musste er barfuss durch ein Salzwasserbecken mit Glassplittern stapfen. Sieben Monate lang durchlebte der Student Walid (Name geändert) in einer Folterzelle des palästinensischen Geheimdienstes Mukhabarat die Hölle.

Sein Vergehen: Der Palästinenser Walid war Informant des israelischen Geheimdienstes Schabak. Ende der 90er-Jahre war das, als der Friedensprozess mit Israel noch aussichtsreich schien. Damals sollte die Palästinensische Autonomiebehörde eigentlich Attentate verhindern. Wöchentlich sprengten palästinensische Terroristen in Israel Busse in die Luft. Doch statt sie zu stoppen, verfolgte die Behörde vermeintliche Verräter wie Walid, weil sie dem Schabak Informationen lieferten. „Ich habe etliche Palästinenser hinter Schloss und Riegel gebracht und so viele Morde verhindert“, berichtet er.

Doch als sein Vorgesetzter aufflog und ihn preisgab, kamen palästinensischen Agenten mit sechs Autos zu ihm nach Hause und verschleppten ihn im Kofferraum in ein Gefängnis der Autonomiebehörde.

Amnesty International: „Folter weitverbreitet“

Jetzt, fast 20 Jahre später, erfährt der Mittvierziger endlich Genugtuung. In einem historischen Urteil entschied unlängst ein Gericht in Jerusalem, dass die Palästinensische Autonomiebehörde Walid und viele andere Betroffene widerrechtlich entführt und gefoltert hat und sie nun finanziell entschädigen muss. Dabei könnte es um Beträge in bis zu dreistelliger Millionenhöhe gehen, sagt Barak Kedem. Der israelische Anwalt vertritt seit 15 Jahren 52 palästinensische Folteropfer der Autonomiebehörde.

Ihre Fälle liegen lange zurück, sie ereigneten sich vor dem Jahr 2002, doch das Foltern hat nicht aufgehört. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kommt in ihrem Jahresbericht 2016/2017 zu dem Schluss, dass „Folter und andere Misshandlungen im Westjordanland weitverbreitet“ seien. Selbst Kinder gehörten zu den Opfern. Sicherheitsdienste hielten Verhaftete „lange Zeit ohne Gerichtsverfahren fest oder ignorierten in Dutzenden Fällen rechtskräftige Urteile, Menschen auf freien Fuss zu setzen“.

Amnesty International erhielt im Jahr 2016 insgesamt 163 Berichte über Folter im Westjordanland. „Die Mehrheit der Vorwürfe richten sich gegen die Polizei“, heisst es in dem Bericht. Die Autoren erheben den Vorwurf, dass „die palästinensische Regierung den Verdacht auf Folter weder unabhängig untersuchte noch die Täter zur Verantwortung zog“.

Was Folteropfer wie Walid ertragen müssen, ist an Grausamkeit kaum zu übertreffen. Er wurde mit allen erdenklichen Methoden gequält. Doch selbst, als die Gefängniswärter sein Genital verletzten, weigerte er sich auszusagen. Dann quälten sie ihn mit der „Kninia“, eine der furchtbarsten Foltermethoden: Walid musste sich unbekleidet auf eine abgebrochene Glasflasche setzen. In diesem Augenblick war er bereit, alles zuzugeben. Er unterzeichnete einen Stapel leerer Seiten. Später wurde darauf ein Geständnis getippt.

Sieben Monate lang durchlebte Walid die Hölle. Danach hielten ihn die Gefängniswärter noch zwei weitere Jahre als Sklave. Frei kam er erst, als seine Eltern einem Staatsanwalt in Hebron 50.000 jordanische Dinar – mit einem heutigen Gegenwert von rund 75.000 Euro – in bar überreichten. „Er gab meinem Vater einen kleinen Zettel in die Hand, damit kam er zu meinem Gefängnis, und innerhalb weniger Minuten war ich frei“, erzählt Walid.

Während der zweiten Intifada von 2000 bis 2005 – dem gewaltsamen Konflikt zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften, der sich bis in den Gazastreifen und das Westjordanland ausweitete – floh Walid wie viele andere Folteropfer der Palästinensischen Autonomiebehörde nach Israel. Seitdem lebt er versteckt in einer Stadt in Israel. Die Vorsicht ist begründet: Die Autonomiebehörde hatte einen Verwandten auf offener Strasse erschossen, der ebenfalls nach Israel gegangen war und sich weigerte heimzukehren.

Freiheit gegen Lösegeld

Auch sein Anwalt Barak Kedem berichtet, wie gefährlich Palästinenser leben, die mit israelischen Behörden zusammengearbeitet haben. „Viele fürchten um ihre Sicherheit und die ihrer Familie, wenn sie vor einem israelischen Gericht erscheinen“, sagt er. Andere Folteropfer warten Jahre, bis sie Gerechtigkeit einfordern. „Immer öfter melden sich Palästinenser bei mir mit der Bitte, sie auch vor einem israelischen Gericht zu vertreten“, sagt Kedem, ein religiöser Siedler aus dem Westjordanland, der seine Mandanten unentgeltlich vertritt.

Dabei sei der Vorwurf der Kollaboration mit Israel in den meisten Fällen falsch oder frei erfunden. Fast alle seiner Mandanten seien meist nur nach der Entrichtung eines Lösegelds freigekommen. Denn es handle sich um „ein System, in dem sich Beamte persönlich bereichern“, sagt Kedem. Walid erinnert sich, wie während seiner dreijährigen Haft ein anderer Häftling vor seinen Augen von einem Polizisten erschossen wurde. „Er erhielt zur Strafe 21 Tage Ausgangssperre“, sagt er.

Die sechs palästinensischen Sicherheitsdienste im Westjordanland werden seit Jahren zumindest indirekt durch EU-Gelder mitfinanziert. Die Polizei wird von der EU-Mission EUPOL COPPS ausgebildet. Zu den Vorwürfen gegen die Autonomiebehörde äussert sie sich auf Anfrage nur ausweichend. Man fördere „die Achtung von Menschenrechten“, sagt Sprecher Mohammad al-Saadi. Und habe der palästinensischen Polizei sogar bei der Formulierung eines Verhaltenskodexes geholfen. Die Kooperation sei „exzellent“, dennoch sei die Mission „nicht in der Lage, spezifische Anschuldigungen zu bestätigen oder zu widerlegen“, da sie keine Kontrollfunktion ausübe.

Die Autonomiebehörde habe aber wiederholt erklärt, dass sofort schwere Sanktionen gegen Täter verhängt würden, falls irgendwelche Vorwürfe bewiesen würden. Laut Amnesty International wurde bislang kein Beamter für Folter belangt.

Walid leidet bis heute an den Folgen der Folter. Die Entschädigung, die ihm der Richter bald zusprechen könnte, will er für intensive medizinische Untersuchungen und Behandlungen nutzen.

Zuerst erschienen bei Die Welt.

Über Gil Yaron

Dr. Gil Yaron ist Buchautor, Dozent und Nahostkorrespondent der Tageszeitung und des Fernsehsenders WELT, sowie der RUFA, der Radioabteilung der dpa. Er schreibt ebenso für die Straits Times in Singapur, und arbeitet als freier Analyst in zahlreichen Fernsehsendern.

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