Kriegsgefahr wegen Toten bei Tunnelsprengung?

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Die Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden, der sog. militärische Flügel der Fatah-Bewegung. Foto Screenshot Youtube / Khbrpress
Die Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden, der sog. militärische Flügel der Fatah-Bewegung. Foto Screenshot Youtube / Khbrpress
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Bei der Zerstörung eines Angriffstunnels vom Gazastreifen hunderte Meter weit auf israelisches Gebiet hat es mindestens sieben Tote gegeben. Der Tunnel soll bis in die Nähe des 1950 gegründeten Kibbuz Kisufim gereicht haben. Die israelische Armee habe den Tunnel mit „modernster Technologie“ entdeckt, als er noch im Bau war. Dessen Sprengung sei unter israelischem Territorium erfolgt.

 

Wie israelische Militärreporter teilweise aus palästinensischen Quellen berichten, habe es unter den Erbauern des Tunnels sieben oder acht Tote gegeben, darunter ein hochrangiger Befehlshaber des „Islamischen Dschihad“. Diese Extremistengruppe hat sich in der Vergangenheit durch Raketenbeschuss auf Israel hervorgetan.

Die palästinensische Seite redet von einem „Verbrechen Israels“ und von einer gefährlichen Eskalation. Israelische Politiker und Beobachter halten jedoch den „Vorfall“ für erledigt und erwarten keine weitere militärische Reaktion der im Gazastreifen herrschenden Hamas-Organisation oder des Dschihad.

Was genau passiert ist und wie die Palästinenser zu Tode gekommen sind, bleibt unklar. Die palästinensische Seite behauptet, dass Israel den Tunnel mit Giftgas geflutet habe, ehe er gesprengt worden sei. Die Israelis hingegen bestehen darauf, nur „legitime Mittel“ angewendet zu haben, also Sprengstoff. Zudem behauptet die israelische Seite, dass es die Toten erst nach der Sprengung gegeben habe. Im teilweise eingestürzten Tunnel habe es „sekundäre Explosionen“ gegeben, was darauf hinweise, dass darin Sprengstoff gelagert worden sei. Die Toten seien keine direkte Folge der israelischen Sprengung gewesen, sondern jener Sekundärexplosionen, als palästinensische Rettungsmannschaften gekommen seien, darunter der Dschihad Befehlshaber Arafat Abu Murshad und sein Stellvertreter Hassan Abu Hassanein. Die wollten angeblich Vermisste zu suchen und eine unbekannte Zahl von Verletzten aus dem eingestürzten Tunnel zu ziehen.

Im israelischen Rundfunk hiess es, dass der Eingang zu dem Tunnel etwa einen Kilometer vor der Grenze auf palästinensischem Gebiet gelegen habe. Der Tunnel sei dann mehrere hundert Meter weit unterirdisch unter israelischem Territorium vorangetrieben worden. Die Absicht sei gewesen, für einen Terrorangriff in Israel Kämpfer durch den Tunnel zu schmuggeln.

Die Israelis hätten schon seit Wochen von den unterirdischen Arbeiten gewusst und sie dank „modernster Technologie“ beobachtet. Einzelheiten zu der eingesetzten Technologie sind streng geheim. Klar ist anhand dieser Informationen nur, dass die Israelis den Zeitpunkt der Sprengung des Tunnels bestimmen konnten. Sie bestreiten, etwas von der Präsenz der Bauarbeiter oder Aktivisten von Hamas oder des Dschihad im Tunnel während der Sprengung gewusst zu haben.

Seit dem Gazakrieg von 2014 ist dieses der gefährlichste Vorfall. Auf israelischer Seite vermuten Beobachter, dass die relative Ruhe gleichwohl bestehen bleibe. Die Palästinenser, also weder Hamas noch der Dschihad, hätten jetzt ein Interesse, die Lage durch Raketenbeschuss Israels weiter zu eskalieren.

 

Für die Hamas passiert der ungewöhnlich tödliche und schmerzhafte Vorfall zu einem denkbar ungünstigen Augenblick. Die Islamisten befinden sich gerade mitten in einem von Ägypten vermittelten „Versöhnungsprozess“ mit der Fatah-Partei des Westjordanlandes. Die Hamas will einen Teil der Kontrolle im Gazastreifen an die PLO und die Autonomieregierung unter Präsident Mahmoud Abbas abgeben. Mit ägyptischer Genehmigung soll auch der Grenzübergang in Rafah geöffnet werden. Da alle Übergänge nach Israel geschlossen sind, ausser für wenige „humanitäre Fälle“, würde die Öffnung der Grenze nach Ägypten erstmals nach Jahren den rund 2 Millionen Bewohnern des Gazastreifens wieder ermöglichen, über Ägypten ins Ausland zu reisen.

Ein erneuter „Krieg“ gegen Israel ausgerechnet jetzt würde nicht nur die innerpalästinensische „Versöhnung“ in Frage stellen und mutmasslich verzögern. Auch die Grenzöffnung wäre infrage gestellt. Israel wiederum behauptet, dass die Sprengung des Tunnels eine reine „Verteidigungsmassnahme“ gewesen sei, da der Tunnel unter israelischem Territorium gesprengt worden sei und nicht im Gazastreifen.

Die Hamas und Israel haben ein grosses Interesse, jetzt die Ruhe zu bewahren. Gleichwohl hat die israelische Armee entlang der Grenze zum Gazastreifen seine Präsenz „erheblich verstärkt“ und angeblich auch wieder das Raketenabwehrsystem „Eisenkappe“ in der Gegend aufgestellt. Nur Bewohner von Kisufim dürfen ihre Ortschaft betreten, während jeder Fremde nach einer Ausweiskontrolle fortgeschickt wird. Die Lage gilt als „sehr angespannt“, aber niemand kann mit Gewissheit vorhersehen, ob es wieder zu Krieg kommt.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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