Israelische Siedlungspolitik – ein deutsches Trauma?

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Sigmar Gabriel vor seinenm Treffen dem israelischen Präsidenten Reuven Rivlin in Jerusalem am 25. April 2017. Foto Yonatan Sindel/Flash90
Sigmar Gabriel vor seinenm Treffen dem israelischen Präsidenten Reuven Rivlin in Jerusalem am 25. April 2017. Foto Yonatan Sindel/Flash90
Lesezeit: 9 Minuten

Wenn man in die Lage gerät, sich in Deutschland über Israel zu unterhalten, dauert es in der Regel nicht lange, bis die Sprache auf die illegale Besatzertätigkeit der Israelis und – damit verbunden – die Siedlungen kommt. Das ist kein Wunder, ist es doch seit geraumer Zeit quasi Staatsdoktrin, sich ganz formell für das Existenzrecht Israels auszusprechen und gleichzeitig vehement den Siedlungsbau als illegal zu kritisieren.

 

von Dr. Nikoline Hansen

Wie das zusammen gehen kann muss ein Rätsel bleiben, da die israelischen Siedlungen im Westjordanland primär nach dem Verteidigungskrieg von 1967 aus strategischen Erwägungen heraus entstanden sind. Auch die immer wieder vorgeschobene Völkerrechtswidrigkeit, die schon im ersten Atemzug der Argumentation Erwähnung findet, ist im internationalen Recht nicht so eindeutig, wie sie mantraartig immer wieder vorgebetet wird, etwa am 5. Mai 2017 vom deutschen Aussenminister Sigmar Gabriel im ZDF. Den darauf folgenden Dialog von Ulrich Sahm mit einem Völkerrechtsexperten des Auswärtigen Amts hat Audiatur-Online am 15. Mai 2017 dokumentiert. Er zeugt insbesondere davon wie schwer es ist, Vorurteile zu durchbrechen und neben einer einmal gefassten Meinung andere Argumente auch nur zuzulassen. Die Debattenkultur beschränkt sich dabei auf höfliche Floskeln. Eigentlich hätte man hoffen können, dass sich mit dem Wechsel in die Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport von Sawsan Chebli, einer deutschen Politikerin palästinensischer Abstammung, die von 2014 bis 2016 stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amts war und die sich regelmässig auch ungefragt gegen die israelische Politik positionierte, die Rhetorik der offiziellen deutschen Aussenpolitik wieder zum Besseren wendet. Ganz offensichtlich ist das aber nicht der Fall.

Eine unglaubliche Unterstellung

Man braucht sich nicht zu wundern, hatte doch der deutsche Aussenminister Sigmar Gabriel in einem Interview für die Funke Mediengruppe am 29. April 2017 sehr eindeutig erklärt: „Die aktuelle Regierung ist nicht Israel, auch wenn sie das gern so darstellt. Für Israel einzustehen, darf ja nicht gleichbedeutend damit sein, zum Beispiel die Rechte der Palästinenser zu ignorieren. Unsere deutsche Haltung zum israelischen Siedlungsbau ist hinlänglich bekannt. Damit stehen wir nicht allein. Dass ich mich bei diesem wichtigen Thema auch mit Kritikern der israelischen Regierung treffe, ist weder ungehörig noch ungewöhnlich noch überraschend.“ Gut, die deutsche Regierung ist auch nicht Deutschland, aber dennoch ist die Regierung demokratisch vom Volk gewählt und daher für andere Regierungen in der Regel erster Ansprechpartner. Offensichtlich gilt diese Regel in Israel nicht. Impliziert ist hier auch der Vorwurf zu entnehmen, Israel, bzw. die israelische Regierung, ignoriere die Rechte der Palästinenser – das ist eine unglaubliche Unterstellung, denn Israel war und ist immer wieder nicht nur zu Verhandlungen bereit sondern trägt entscheidend zur Versorgung in den palästinensischen Gebieten mit Infrastrukturmassnahmen bei. Die enge Verknüpfung mit der  israelischen Siedlungspolitik als „wichtiges Thema“ zeigt, dass diese als grundlegend rechtswidrig wahrgenommen wird – so wie es deutsche Völkerrechtler immer wieder einseitig interpretieren. Deshalb wird das Thema also bei jeder Gelegenheit mit schöner Regelmässigkeit immer wieder auf die Tagesordnung gebracht und gleichzeitig auch als vorrangiges Friedenshindernis proklamiert.

Am 21. Juni 2017 erklärte der Sprecher des Auswärtigen Amtes Martin Schäfer: „Ich möchte Ihnen für die Bundesregierung zu der aktuellen Entwicklung in Israel Folgendes sagen: Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu persönlich hat gestern den Baubeginn der ersten neuen Siedlung seit Beginn des Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern angekündigt und insgesamt bis zu 3.000 neue Wohneinheiten im Westjordanland zugesagt. Der israelische Ministerpräsident hat gestern bekräftigt, dass es keine Regierung wie seine gebe, die besser für die Siedlungsbewegung gewesen sei. Wir bedauern diese Entwicklungen sehr. Wir haben bereits in der letzten Woche an dieser Stelle unsere Haltung, die Haltung der Bundesregierung dazu sehr deutlich gemacht. Ich möchte wiederholen: Als ein enger Freund, enger Verbündeter und Partner Israels sehen wir mit wachsender Sorge, dass die israelische Regierung einen Weg zu verfolgen scheint, der aus der Sicht der internationalen Staatengemeinschaft nicht nur ein Verstoss gegen das Völkerrecht ist, sondern der auch die Perspektive einer friedlichen und verhandelten Zweistaatenlösung zwischen Israel und den Palästinensern ernsthaft infrage stellt. – Ich danke Ihnen.“

Diese Erklärung folgt dem Denkmuster, das derzeit eine offensichtlich unveränderliche Grundlage der deutschen Aussenpolitik gegenüber Israel ist: Es wird kritisiert und „bedauert“, sodann die „internationale Staatengemeinschaft“ als Unterstützung dieser Position angeführt und schliesslich ohne weitere Erörterung der komplexen Problematik die vermeintliche Völkerrechtswidrigkeit festgestellt, die vorgeblich friedliche Verhandlungen „ernsthaft infrage stellt“.

Das ist eine aus verschiedenen Gründen unhaltbare Positionierung, die schizophrene Züge hat. Tatsächlich gibt es wie bereits erwähnt völkerrechtlich sehr wohl unterschiedliche Auffassungen, denn das Gebiet war vor 1949 palästinensisches Mandatsgebiet, in dem Juden international anerkannt leben durften. Zudem ist die Tatsache unbestritten, dass viele der seit 1967 entstandenen Siedlungen strategisch notwendig sind, um einen erneuten Angriffskrieg gegen Israel zu verhindern. Das gilt nicht nur für die Siedlungen in Judäa und Samaria, also dem heutigen Westjordanland, das  im übrigen von 1949 bis 1967 zum haschemitischen Königreich Jordanien gehörte, sondern auch für die Golanhöhen. Nicht umsonst wurde Israel in der UN-Resolution 242 vom November 1967 nicht aufgefordert, sich wieder aus allen eingenommenen Gebieten zurückzuziehen. Es gibt Pläne und Verhandlungen zu entsprechendem Gebietsaustausch, sodass die Siedlungen einer friedlichen Zweistaatenlösung nicht im Wege stehen und Israels Sicherheit aus militärischer Sicht garantiert ist – Angebote, die von palästinensischer Seite immer wieder ausgeschlagen werden, da Israel als jüdischer Staat nicht akzeptiert wird. Trotzdem hat es sich inzwischen zu einer üblichen Denkweise entwickelt, Israel als Aggressor hinzustellen und die Rückgabe dieser Gebiete als Voraussetzung für die Beendigung des Nahostkonfliktes zu betrachten.

„Israel bombardiert Ziele in Syrien“

Aus der deutschen Perspektive eines seit Jahrzehnten währenden Friedens mag das verständlich sein. Allerdings ist es beunruhigend, wenn auch gut gebildete Deutsche in einflussreichen Positionen nicht in der Lage sind, sich in die im Nahen Osten vorherrschende Konfliktsituation einzudenken und das Problem der permanenten Bedrohung als Paranoia einer vermeintlich „rechten“ Regierung abtun, die „nicht Israel“ ist und gegen die es Zeichen zu setzen gilt. So erläuterte mir unlängst ein inzwischen pensionierter Vertreter des Goethe-Instituts in Damaskus in einem persönlichen Gespräch, dass die Syrer kein Interesse daran hätten gegen Israel zu kämpfen und Israel die Golanhöhen völkerrechtswidrig für sich behielte. Die Israelis müssten die Golanhöhen an Syrien zurück geben. Unser Gespräch fand wenige Tage vor den Zwischenfällen an der syrischen Grenze statt, die Israel zu militärischen Gegenschlägen zwangen, die von den deutschen Medien mit Schlagzeilen wie „Israel bombardiert Ziele in Syrien“ begleitet wurden. Die Konsequenzen, wenn die  Golanhöhen syrisches Staatsgebiet gewesen wären und diese Kämpfe bei derartiger Grenzziehung entsprechend eskaliert wären, mag ich mir nicht auszumalen – die Reichweite der Geschosse würde jedenfalls bis weit in die bewohnten israelischen Gebiete gehen. Ein Blick auf die Karte ist immer wieder sehr hilfreich, um die komplizierte Verteidigungslage des kleinen Landes zu verstehen.

Es ist daher an der Zeit sich auch einmal darüber Gedanken zu machen, was eigentlich die Folge der geforderten Aufgabe der Siedlungen wäre: Wenn man sich die Bevölkerungsstatistik der sogenannten besetzten Gebiete ansieht ist sehr eindeutig zu erkennen, was das Ziel einer derartigen Politik des Rückzugs wäre: In allen Gebieten, die vor 1967 nicht zu Israel gehörten, lebten seit der Staatsgründung Israels keine Juden mehr, obwohl dies zuvor in Gush Etzion und Ostjerusalem noch der Fall war. Erst 1972 begann der Anteil an der jüdischen Bevölkerung dort wieder zu wachsen. Dies galt auch für Gaza, wo 2006 wiederum alle Siedlungen geräumt wurden. Die Folgen – im übrigen für alle Beteiligten, nicht nur die Juden, sondern gerade auch für die palästinensische Bevölkerung – sind bekannt. Das sieht auch der Sprecher des Auswärtigen Amtes Schäfer so, wie er auf der Pressekonferenz der Bundesregierung am 23. Juni 2017 ausführte: „Dass wir den Wunsch hegen, dass die öffentliche Daseinsvorsorge für die Menschen in Gaza besser wird, habe ich, glaube ich, schon gesagt. Deutschland hat sich selber auch in anderer Weise um die öffentliche Daseinsvorsorge zu bemühen versucht. Vor Jahren haben wir viel Geld aus dem BMZ und aus dem Auswärtigen Amt in den Versuch investiert, eine vernünftige Kläranlage zu bauen, Abwasserreinigung vorzunehmen. Wir sind auch an anderen Projekten beteiligt. Sie fordern mich auf, Verantwortliche zu benennen. Das mache ich ausdrücklich nicht, sondern ich fordere alle auf, die Einfluss auf die Lage in Gaza haben, einschliesslich der politisch Verantwortlichen von Hamas in Gaza, alles dafür zu tun, dass die Leidtragenden nicht immer wieder die Zivilbevölkerung in Gaza sind. Das sind sie nämlich. Ich erinnere mich da gut an Gespräche, die Herr Steinmeier mit Schulkindern oder auch mit Menschen geführt hat, die in Gaza leben, ja leben müssen. Das ist schon erschütternd, wie die Lebensverhältnisse da sind.“ Die Pressekonferenz fand übrigens am gleichen Tag statt, an dem die ARD sich abends gezwungen sah die mit einem zweifelhaften „Faktencheck“ versehene Dokumentation „Auserwählt und Ausgegrenzt – der Hass auf Juden in Europa“ zu zeigen – ein einmaliger Vorgang im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, der noch immer auf eine plausible Erklärung wartet. Die Rhetorik des Sprechers des Auswärtigen Amtes ist die gleiche Rhetorik, mit der der Intendant des WDR versuchte, sich in den anschliessenden Diskussionen aus der Verantwortung beziehungsweise einer Parteinahme zu stehlen. Es mag edel wirken, Verantwortliche „ausdrücklich nicht“ zu benennen. Es ist aber kein Zeichen von Charakter, wenn man Freunde nur formal als solche bezeichnet und dabei gewillt zu sein scheint, sie ihren Feinden auszuliefern.

Dieses vermeintlich diplomatische Verweigern einer eindeutigen Bekenntnis ist auch eine Form der Nichtparteinahme für „Freunde“, auf die man wohl offensichtlich lieber verzichten würde, weil sie als „enge Verbündete“ nichts als Ärger produzieren – und das durch ihre blosse Existenz als demokratischer Staat, dem man sich aufgrund der historischen Ereignisse besonders verpflichtet fühlen muss. Dass das nicht immer der gebotenen Neutralität geschieht verwundert daher nicht.

So heisst es auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes über die Innenpolitik Israels: „Israel versteht sich als jüdischer und demokratischer Staat. Es hat keine geschriebene Verfassung. Als vorübergehender Ersatz gelten die so genannten “Grundgesetze”. Bisher hat das Parlament 14 dieser Gesetze verabschiedet.“ „Versteht sich als demokratischer Staat“? Das ist eine merkwürdige Formulierung, die durch die nicht näher erläuterten Gründe für das Fehlen einer geschriebenen Verfassung noch verstärkt wird – es klingt als handele es sich um einen Staat, der gerne demokratisch wäre aber noch nicht einmal eine Verfassung hat. Eine Stichprobe bei der Darstellung anderer Länder ergab, dass ihr „demokratisches Verständnis“ in der Regel gar nicht erwähnt wird.

Es ist bequem, in diesem Konflikt keine eindeutige Stellung zu beziehen sondern immer wieder auf den Siedlungsbau als Wurzel des Nahostkonflikts zurück zu kommen, denn das bestätigt das Bild, das in der deutschen Öffentlichkeit mittlerweile weit verbreitet ist: Juden, die unrechtmässig Land besetzen und andere Menschen dabei vertreiben. Es ist ein Bild, das in Deutschland gut verstanden wird, denn es erinnert an die eigene Geschichte. Die jahrzehntelang palästinensische Rhetorik der Vertreibung, die schon mit dem Teilungsplan der UNO begann, ist auf einen sehr fruchtbaren Boden gefallen. Die deutsche Aussenpolitik zeigt das ebenso wie die überwiegende Mehrheit der deutschen Medienlandschaft durch unerschütterliche Ignoranz der Fakten, die nicht in dieses Schema passen.

Nikoline Hansen ist Literatur- und Kommunikationswissenschaftlerin.

1 Kommentar

  1. Mit anderen Worten: das “Sicherheitsbedürfnis Israels” ist die Leitschnur politischen Handelns und nicht das Internationale Völkerrecht. Da man heutzutage auch Mittelstreckenraketen einsetzen kann, wäre somit ein Glacis von mehreren Hunderten Kilometer in Richtung Osten eine legitime Forderung Israels? Warum dann nur “Judäa und Samaria” sowie die syrischen Golanhöhen als legitimes strategisches jüdisches Besiedelungsland reklamieren, und nicht gleich auch ganz Jordanien bis an Euphrat und Tigris, oder gleich bis an den Indischen Ozean. Ihre Argumentation, sehr geehrte Frau Dr. Hansen, ist absurd und nur mit einem krank- und krampfhaften Philosemitismus zu erklären, dessen Ursachen und Folgen wir ja bei der Tagung in der Evangelischen Akademie vor 2 Wochen sehr intensiv untersucht haben.

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