Machtkampf am Golf

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Die Skyline von Doha. Foto Francisco Anzola - Doha skyline in the morning, CC BY 2.0, Link
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Katar ist grössenwahnsinnig geworden, Saudiarabien greift ein – über einen verworrenen Konflikt.

 

von Bassam Tibi, Basler Zeitung

Am 5. Juni haben vier zentrale Mitglieder der Arabischen Liga – Saudiarabien, Ägypten, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate – die diplomatischen Beziehungen zu Katar abgebrochen und eine vollständige Blockade auf allen Ebenen über das kleine Land verhängt. Was ist der Hintergrund dieser massiven Handlung, und welche Folgen wird sie haben?

Die Begründung der vier arabischen Staaten lautete, dass Katar dafür büssen müsse, dass es den islamistischen Terrorismus und dazu noch Iran gegen die arabische Front am Golf durch indirekte Hilfe unterstütze. Der katarische Botschafter in Berlin sagte in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel: «Wir unterstützen keine radikalen Islamisten», und verleugnete die Iran-Connection; er spielt den Konflikt herunter und meinte: «In einer Familie und unter Freunden kann es schon mal Streit geben.» Dieser Streit werde, so seine Worte, durch eine «einvernehmliche» Lösung beendet.

Faktenmässig handelt es sich nicht um einen familiären Streit, sondern um einen tief greifenden weltpolitischen Konflikt, vergleichbar mit dem alten Konflikt zwischen Kuba und den USA. In frühen Tagen der Kubanischen Revolution waren Fidel Castro und Che Guevara vom Wahn ergriffen, sie könnten die USA in der Karibik herausfordern und in die Knie zwingen. Ähnlich dachte der Herrscher von Katar, er könne Saudiarabien als Giganten am Golf mit Hilfe Irans und der Islamisten ausmanövrieren.

Die Sunna-Schia-Dimension

Die kleine Halbinsel hat auf eine aussenpolitische Revolution am Golf hingearbeitet und nicht nur Iran und die Islamisten für sich mobilisiert. 1996 ging Katar auch in die Medien-Offensive und gründete den Fernsehkanal al-Jazeera , der bis heute die höchsten Einschaltquoten in der gesamten arabischen Welt hat.

Der heutige Herrscher von Katar, Al Thani, wollte – wie schon sein Vater – sein Land von der Hegemonie Saudi-Arabiens loslösen. Deshalb hat er in den vergangenen Jahren eine Art Seiltanz zwischen Iran und Saudiarabien aufgeführt. Eine Dimension des Konflikts ist die Spannung zwischen dem schiitischen Islam, verkörpert durch Iran, und dem sunnitischen Islam, in Gestalt Saudi-Arabiens. Jedoch reicht dieser Hinweis auf die Sunna-Schia-Dimension als Erklärung nicht aus. Denn der Konflikt wütete schon früher, zu Zeiten des säkularen Schah-Regimes.

Fakt ist: Katar fordert Saudiarabien seit zwei Jahren zweifach heraus. Um den ersten Grund zu verstehen, müssen folgende Informationen unterbreitet werden. Saudiarabien hat eine islamisch-wahhabitische Legitimität. Der Wahhabismus ist kein Islamismus, sondern ein traditioneller islamischer Salafismus. Saudiarabien unterstützt islamistische Bewegungen aus taktischen Gründen und bekämpft sie zur selben Zeit, weil Wahhabismus und Islamismus einfach inkompatibel sind. Die Herrscherfamilie von Katar ist zwar sunnitisch, aber nicht wahhabitisch; mit Iran teilt sie die aussenpolitische Orientierung gegen die Pax Saudiana am Golf.

Deswegen unterstützt Katar nicht nur die sunnitischen Muslimbrüder, die islamistisch sind, sondern auch schiitische Jihadisten. Katar gründete den antiwestlichen Al-Dschasira-TV-Propagandasender, gleichzeitig steht im Land eine amerikanische Militärbasis. Und noch mehr irritierende Komplexität: Nicht nur wirken in Katar schiitische Revolutionsgarden aus dem Iran, auch die sunnitische Türkei betreibt eine Militärbasis, und selbst die Taliban haben eine Vertretung in Katar. Der Kleinstaat unterstützt die Schiiten im Jemen-Krieg und hat sich mit Kampfflugzeugen am Sturz Gaddhafis in Libyen beteiligt. Es ist nicht leicht, sich im Dickicht dieser Interessen zurecht zu finden.

Katar gehört nach dem Pro-Kopf-Einkommen zu den reichsten Ländern dieser Welt. Im Jahr 2000 hatte das Land eine Bevölkerung von nur einer halben Million. Heute sind es 2,7 Millionen. Das ist nicht durch Wachstum der Bevölkerung geschehen, sondern durch Zuzug fremder Arbeitskräfte aus Asien, Afrika und auch aus dem Westen.

Etwa 80 Prozent der Bewohner Katars sind Ausländer, mit klarer sozialer Hierarchie. Asiaten arbeiten wie Sklaven für zirka 200 Dollar im Jahr, wohingegen Europäer und Amerikaner Einkommen in Millionenhöhe haben. Die Geldreserven Katars betragen 34 Milliarden US-Dollar. Das Land ist so reich, dass es laut Financial Times pro Woche 500 Millionen Dollar für den Ausbau der für die Fussballweltmeisterschaft benötigten Infrastruktur ausgeben kann.

Das Geheimnis des Reichtums

Das Geheimnis dieses unglaublichen Reichtums ist LNG (Liquefied Natural Gas). Katar ist der weltweit grösste Produzent von verflüssigtem Erdgas. Mit LNG wurde Katar reich, als Scharnier zwischen Saudiarabien und Iran spielte es am Golf eine grosse Rolle, mit al-Jazeera entwickelte es eine weltweite Wirkung; daneben veranstaltet das Land 2022 auch noch die Fussball-WM und finanziert islamistische Netzwerke – die Scheichfamilie wurde grössenwahnsinnig. Eine Maus fordert den Elefanten heraus.

Nun schlägt der Elefant zurück. Saudiarabien hat Ägypten, das militärisch mächtigste arabische Land mit der Al-Azhar-Universität, die eine Deutungshoheit des sunnitischen Islam hat, und noch zwei Golfscheichtümer, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate, für sich gewinnen können. Das von Saudiarabien geführte Bündnis stellt 13 Forderungen an Katar, zu denen folgende gehören: die Beziehung zu Iran zu reduzieren, die Mitglieder der iranischen Revolutionsgarden auszuweisen, die militärische und geheimdienstliche Kooperation mit Iran zu beenden, den türkischen Militärstützpunkt und nicht zuletzt al-Jazeera zu schliessen. Wird Katar dies tun? Die Gegenfront ist unnachgiebig und kompromisslos. Das ist ein Machtspiel, kein Familienzwist.

Bis heute wird dieses Katar von einer Familie beziehungsweise einem Stamm namens Al Thani regiert. Die Geschichte geht zurück ins Jahr 1860, als die britische Kolonialmacht den Al-Thani-Clan aufgebaut und das Gebiet dann 1868, als ein Scheichtum, in dem der Herrscher ein Emir ist, anerkannt hat. In Katar trägt jeder Politiker den Namen Al Thani, vom Herrscher über den Aussenminister bis zum katarischen Botschafter in Berlin. Die Saudis sind auch ein Stamm und das Land heisst nach ihnen Saudiarabien. Katar müsste entsprechend Thani-Arabien heissen.

Der Al-Thani-Clan

1971 erklärte Katar seine Unabhängigkeit von Grossbritannien und wurde erstmals ein souveräner Staat. Seitdem gab es zwei Umstürze, einmal 1972, als Ahmed Al Thani von seinem Sohn gestürzt wurde, und dann 1995, als Hamad Al Thani seinen Vater ablöste. Der gegenwärtige Herrscher ist Hamads Sohn, also auch ein Al Thani, er regiert seit 2013, da sich sein Vater aus Krankheitsgründen zurückgezogen hat. Für unseren Zusammenhang ist die Regierungszeit von Scheich Hamad Al Thani seit 1995 wichtig, weil sie eine systematische Politik der Loslösung von der saudi-arabischen Hegemonie dokumentiert.

Aus zwei Gründen hat Scheich Hamad Al Thani 2013 die Macht an seinen Sohn abgegeben: Schon damals erkannte er, dass er mit den Provokationen gegenüber Saudiarabien nicht gewinnen kann. Der zweite Grund war sein sich verschlechternder Gesundheitszustand. Als 2013 der damals 34 Jahre alte Tamin bin Hamad Al Thani zum Emir von Katar aufstieg, milderte er die Politik seines Vaters ab, was den Saudis allerdings nicht genügte. Deshalb schlugen sie am 5. Juni 2017 zu.

Eine tödliche Blockade

Der Konflikt entzündete sich, als eine Zahlung Katars bekannt wurde: zunächst an Iran-gebundene schiitische Jihadisten in Höhe von 700 Millionen Dollar im Irak, dann 300 Millionen Dollar an sunnitische Jihadisten in Syrien. Zu den Anekdoten dieses Konflikts gehört die Bekanntmachung des irakischen Premierministers Haidar Al Abadi im vergangenen April, dass die irakische Regierung viele Millionen Dollar in bar, die sich als Frachtladung an Bord mehrerer katarischer Flugzeuge befanden, in Bagdad beschlagnahmt hat. So unglaublich locker gehen Ölscheichs mit Millionen von Dollar Bargeld um.

Warum zahlt der katarische Emir diese Milliarde US-Dollar in bar sowohl an Schiiten als auch an Sunniten der Terrorszene? Zu den verrückten Hobbys der Golf-Scheichs gehört die Falkenjagd. So leichtsinnig sind sie hierbei, sie reisen sogar in den verfeindeten, von Gewalt überschatteten Irak, um dort ihre Falkenjagd zu betreiben. Hierbei haben schiitische Jihadisten 26 Al-Thani-Prinzen gekidnappt. Die 700 Millionen Dollar sollen das Lösegeld für die Freilassung dieser Al-Thani-Prinzen sein.

Aber weshalb erfolgte die Zahlung an die sunnitischen Jihadisten? In Syrien haben zwei Al-Qaida nahestehende sunnitische dschihadistische Gruppen, Tahir Al Sham und Ahrar Al Sham, schiitische Hisbollah-Kämpfer gekidnappt. Ein Teil des Deals besteht darin, dass Katar 300 Millionen an sunnitische Jihadisten bezahlt, damit sie die schiitischen Hisbollah-Kämpfer freilassen.

Die Blockade Katars durch vier arabische Staaten ist tödlich, kein blosser Familienstreit. Bis zu 80 Prozent der Lebensmittel Katars werden aus dem Ausland importiert. Allein 40 Prozent davon über die saudische Grenze. Auch die Ausfuhr von LNG wird durch die Blockade behindert, und Katar kann diese Isolation nicht sehr lange überstehen.

Politik jenseits aller Rationalität

Die von der islamistischen AKP regierte Türkei hat inzwischen Hilfsschiffe mit Lebensmitteln nach Katar entsandt. Das ist ein Beispiel für die Komplexität des Konflikts, denn die Türkei ist sunnitisch und nimmt Front gegen das sunnitische Saudiarabien. Dies macht klar, dass man mit der Sunna-Schia-Dimension den Konflikt nicht angemessen erklären kann. Die palästinensische Hamas, die Hunderte von Millionen aus Katar erhält, hat grosse Demonstrationen zur Solidarität mit Katar gegen Saudiarabien orchestriert. Es klingt fast lustig, dass die islamistische Hamas-Regierung in Gaza Demonstrationen gegen ein Bündnis zwischen der PLO des palästinensischen Präsidenten Abbas, den USA und Israel organisiert. Die Hamas wittert eine Verschwörung gegen den Islam. So findet Politik im Nahen Osten statt, jenseits jeder Rationalität.

Bassam Tibi (72) ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen (Georg-­August-Universität Göttingen). Er hat von 2007 bis 2010 am Center for Advanced Holocaust Studies in Washington D. C. seine zuvor in 22 islamischen Ländern betriebene ­Forschung über die islamistische Ideologie in dem Buch «Islamism and Islam» zusammengefasst. Als wichtigste Säule dieses ­Ideologiegebäudes identifizierte er den islamisierten Antisemitismus. Die Yale ­University Press hat das Buch 2012 ­veröffentlicht.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Basler Zeitung.