Palästinensische Tote, die niemanden interessieren

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Der Eingang zu Ain al-Hilweh. Foto Twitter / Paltoday
Der Eingang zu Ain al-Hilweh. Foto Twitter / Paltoday
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Stell Dir vor, es ist Krieg in einem palästinensischen Flüchtlingslager, ein 12-jähriges Kind und ein 18-jähriger Jugendlicher werden von Scharfschützen erschossen, und niemand in Europa berichtet darüber. Wie kann das sein? Waren denn da weit und breit keine Israelis, denen man die Taten in die Schuhe schieben kann, um aus den Getöteten „Märtyrer“ zu machen, die man zur Anklage der Juden benutzen kann – wie einst William von Norwich oder Simon von Trient?

Die Rede ist vom Flüchtlingslager Ain al-Hilweh in der Nähe der südlibanesischen Stadt Sidon. Das „Lager“ ist eigentlich eine Grossstadt, in der über 100.000 Menschen wohnen, die meisten von ihnen Nachfahren von Flüchtlingen des Kriegs von 1948, dazu kamen in den letzten Jahren einige Zehntausend Flüchtlinge aus Syrien. Ihnen allen – sowie ihren Kindern, Enkeln, Urenkeln usw. – ist die libanesische Staatsbürgerschaft verwehrt; sie dürfen nicht legal arbeiten und haben auch sonst keine Rechte. Sie werden von den arabischen Führern als Druckmittel benutzt, zur Anklage Israels. Sie sollen solange in Elend und Rechtlosigkeit gehalten werden, bis Israel zerstört ist und sie in das Land umsiedeln sollen, aus dem ihre Grosseltern und Urgrosseltern einst geflohen sind, weil sie von den heranrückenden arabischen Armeen dazu aufgefordert wurden.

Dieses zynische Spiel kann natürlich nur funktionieren, wenn das westliche Ausland dabei mitmacht und Israel die Schuld am Elend der „Flüchtlings“-Kaste gibt – und nicht den arabischen Staaten und der PLO, die ein politisches und wirtschaftliches Interesse daran haben, dass sich am Status quo nichts ändert.

Doch Komplizen finden sich immer. Leute wie der deutsche Hörfunkreporter Thomas Nehls, der kürzlich in einer Reportage für Deutschlandradio Kultur behauptete, Israel habe bei seiner Staatsgründung „750.000 Palästinenser“ „aus ihren Häusern“ „vertrieben“, die Hamas im Gazastreifen sei „frei gewählt“, in Hebron würden „andauernd“ Araber durch „gläubige Juden“ vertrieben und überhaupt sei Israel, die „Besatzungsmacht“, schuld daran, dass es „Flüchtlinge in der inzwischen vierten Generation“ gibt. Ihm hätte auffallen können, dass das logisch unmöglich ist; dass man einen Flüchtlingsstatus nicht vererben kann (jemanden, der eine solche Haltung bezogen auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete verträte, würde man einen Revanchisten, Rechtsextremen und Ewiggestrigen nennen). Und tatsächlich sagte Nehls in seinem Beitrag einen Satz, der ihn hätte stutzig machen sollen: „Aber sie [die vermeintlichen Flüchtlinge] weigern sich, beispielsweise in das Stadtgebiet von Bethlehem zu ziehen – trotz 20-30 Prozent weniger Arbeitslosigkeit und mit durchaus mehr Komfort.“ Flüchtlinge, die bessere Wohnungen, Jobs und mehr Komfort ablehnen? So etwas gibt es nur in einem Teil der Welt.

Im Libanon kann man sich das nicht vorstellen. Aus manch einem der dortigen Lager kommt keiner mehr raus. Wie Mena Watch im November berichtete, baut das libanesische Militär um Ain al-Hilweh eine hohe Betonmauer samt Wachtürmen. Die Stadt gilt nämlich als berüchtigtes Terroristennest, und der Libanon fürchtet weitere Anschläge wie die vom November 2015 – Rache sunnitischer Terroristen für das Eingreifen der schiitischen Hisbollah-Miliz in den syrischen Bürgerkrieg. Libanesische Sicherheitskräfte betreten die „Flüchtlingslager“ in der Regel nicht. Diese werden von der Fatah kontrolliert, die Bündnisse mit dschihadistischen Splittergruppen eingeht.

Mitte Februar bröckelte diese Allianz – wie so oft –, nachdem einer ihrer höchsten Offiziere zurückgetreten war. Letztes Wochenende die Eskalation mit drei Verletzten. Darauf ein Waffenstillstand. Am Montag explodierte vor einem Call-Center in Ain al-Hilweh eine Bombe, es kam zu Gefechten, Zeitungen und Nachrichtenagenturen berichteten von MG-Feuer und Mörsergranaten. Bei diesen Kämpfen wurden Arafat Mustafa Sahyoun (12) und Maher Dahsheh (18) getötet. Auf Facebook gibt es ein Video, auf dem zu sehen sein soll, wie der verletzte Dahsheh weggetragen wird. Auch eine schwangere Frau und ein UN-Mitarbeiter sollen verletzt worden sein. Am Dienstag wurde erneut ein Waffenstillstand ausgerufen. Am Mittwoch gab es in Sidon einen Generalstreik aus Protest gegen die Gewalt.

Ist das in Europa nicht einmal eine kurze Meldung wert? Nein, schliesslich kann man ja nicht Israel verantwortlich machen. No Jews, no news. Dabei gäbe es über riesiges Leid von Palästinensern zu berichten, für die es keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt. Aber wen interessiert das, wenn es sich nicht politisch ausbeuten lässt?

Nach Angaben der libanesischen englischsprachigen Zeitung Daily Star wurde die jüngste Runde der Gefechte auch durch die Besuche zweier Fatah-Granden ausgelöst: Mahmoud Abbas, der Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde, war für drei Tage im Libanon. Zur selben Zeit weilte in Ein al-Hilweh die Ehefrau von Abbas‘ Gegenspieler, dem früheren Arafat-Vertrauten Mohammed Dahlan. Dahlans Frau, so der Daily Star, „versucht Berichten zufolge, den Einfluss ihres Mannes unter den Fatah-Anhängern in Ein al-Hilweh zu stärken, auf Kosten von Mainstream-Fatah-Kommandanten, die Abbas folgen“.

Ein Zank zwischen zwei Wichtigtuern also. Und darum mussten zwei unbeteiligte Menschen im Alter von 12 und 18 Jahren sterben? Ja. Interessiert es die europäische Presse und Politik? Nein. Die Vorgänge in Ein al-Hilweh und das Ausbleiben jeglicher Reaktionen darauf sind eine Vorahnung des Schreckensszenarios, das sich einstellen würde, wenn es den „unabhängigen palästinensischen Staat“ gäbe, den EU-Politiker so eifrig fordern. Es gäbe in Ramallah permanente Massaker, und niemanden würde es interessieren. Übrigens: Die Mauer um Ein al-Hilweh ist fast fertig, melden libanesische Zeitungen.

Zuerst veröffentlicht auf MENA-Watch – Der unabhängige Nahost-Thinktank.

Über Stefan Frank

Stefan Frank ist freischaffender Publizist und lebt an der deutschen Nordseeküste. Er schreibt regelmässig über Antisemitismus und andere gesellschaftspolitische Themen, u.a. für die „Achse des Guten“, „Factum“, das Gatestone Institute, die „Jüdische Rundschau“ und „Lizas Welt“. Zwischen 2007 und 2012 veröffentlichte er drei Bücher über die Finanz- und Schuldenkrise, zuletzt "Kreditinferno. Ewige Schuldenkrise und monetäres Chaos."

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