73 Jahre danach: Mutter und Tochter sprechen über den Holocaust

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Drei Generationen. Rosa Kahan mit Tochter und Enkeltochter. Foto Yvette Schwerdt
Drei Generationen. Rosa Kahan mit Tochter und Enkeltochter. Foto Yvette Schwerdt
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Sie wurde als junges Mädchen nach Auschwitz verschleppt, gequält und erniedrigt, der nächsten Angehörigen beraubt. Sie hat dennoch überlebt. Hier spricht Rosa Kahan, geb. Stern, mit ihrer Tochter über ihre Erlebnisse und darüber, wie diese Erlebnisse ihr Leben und ihr Denken seither beeinflussen.

Es ist Mai 1944, und Du wirst, gerade mal 17 Jahre alt, vom Ghetto in Deiner Heimatstadt Hust, in der ehemaligen Czechoslowakei, deportiert.

Wir wurden von den ungarischen Nazi-Kollaborateuren zunächst in die nahegelegene Ziegelfabrik beordert. Dort begann ein systematischer Entmenschlichungs-Prozess. Wir mussten uns vor bewaffneten Soldaten nackt ausziehen und einer internen Untersuchung unterziehen, weil man uns angeblich verdächtigte, Wertgegenstände in unseren Körpern zu verbergen. Für mich war dieser Moment der Beginn eines knapp-einjähriges unaussprechlichen Schockzustands, einer Art geistigen Wegtretens. Von der Ziegelfabrik wurden wir in Viehwagone gepfercht und nach Auschwitz gebracht. Es gab weder Essen noch Wasser und nur einen einzigen Eimer, in dem hunderte ihre Notdurft verrichten sollten.

In Auschwitz wurde dann alles nur noch schlimmer?

Ja. Sobald sich die Türen der Viehwagone öffneten, hörten wir schon die gellenden Schreie der SSler: “Schnell, schnell, raus, raus”. Chaos brach aus. Jüdische Häftlinge in gestreiften Kleidern riefen uns zu, Kleinkinder den Grosseltern zu übergeben. Dann wurden wir, Männer und Frauen getrennt, zur Rampe getrieben, wo Mengele mit dem Daumen, mal nach rechts und mal nach links zeigte. Ich stand mit meiner Mutter — Deiner Grossmutter — und meiner Tante, Hinda, in einer Fünferreihe. Mengele teilte die Reihe ab, deutete meine Mutter und mich nach Rechts; meine Tante und die beiden anderen Frauen nach links. Meine couragierte Mutter begann mit Mengele zu diskutieren, flehte ihn an, sie nicht von ihrer Schwester zu trennen. Er erwiderte, sie könne mit der Schwester mitgehen, oder mit mir. Sie solle wählen. Meine Mutter zögerte einen Augenblick, ich zog sie fest am Arm. Wir haben Hinda nie wieder gesehen.

Wie konnte man in Auschwitz überleben?

Mit striktem Zusammenhalt und mit täglichen wundersamen Ereignissen. Sobald wir in Auschwitz eine andere Tante und zwei Cousinen trafen, blieben wir fünf unzertrennlich. Wir halfen einander, teilten jeden Krümel Brot und stützten einander auch seelisch. Es war dieser Zusammenhalt, der uns am Leben erhielt.

Du hast auch Selektionen überlebt, bei denen Du nach Links geschickt wurdest.

Ja, das waren eben jene Wunder, von denen ich vorhin sprach. Einmal wurde ich nach links zu einer anderen Gruppe Todgeweihter geschickt. Um die Gruppe hatten  bewaffneten SSler einen dichten Kreis gebildet, aus dem kein Entkommen möglich schien. Meine spätere Schwägerin und ihre Freundin, die als Stubenälteste eine etwas privilegiertere Position innehatten, erkannten aus den Augenwinkeln, was gerade abgelaufen war. Rasch streifte die eine ihre Armbinde, die sie als „Stubova“ auswies, ab und legte sie mir an. Dann nahmen mich beide fest in die Mitte und schubsten mich, wie selbstverständlich,  aus dem Kreis heraus. Als wir eine sichere Distanz erreicht hatten, wiesen sie mich an, zur Baracke zu laufen.  Den Anblick meiner Mutter, als ich eintrat, vergesse ich nicht. Sie sass auf der Pritsche, das Gesicht tief in die Hände vergraben, verzweifelt. Du kannst Dir vorstellen, was in uns vorging, als sie aufblickte.

Von Auschwitz bist Du in das KZ-Aussenlager Lübberstedt gekommen.

Ja, nach drei Monaten wurden wir zur Arbeit in eine Munitionsfabrik beordert. Die Konditionen waren etwas besser, weil es dort keine Gaskammern gab und wir uns — zwar mit eiskaltem Wasser aber dennoch täglich — waschen konnten. Trotzdem war unser Leben auch dort die Hölle. Wir bekamen kaum zu essen und ernährten uns häufig von Blättern und Grashalmen. Zudem herrschte unaussprechliche Gewalt. Die sogenannte Oberin, etwa, schlug eine Frau eigenhändig zu Tode weil sie Kartoffeln gestohlen hatte. Dann wurde ihr Leichnam als Abschreckbeispiel öffentlich ausgestellt,

Gab es auch irgendwelche Lichtblicke?

Ja, und viele dieser Lichtblicke gehen auf das Thema Zusammenhalt zurück. Wundersamerweise halfen Menschen einander immer wieder in Auschwitz. Einmal hiess es beispielsweise über meine Mutter, sie sei vor dem Krieg eine reiche Frau gewesen. Ein solches Statement war im KZ lebensgefährlich. Die Schneiderin meiner Mutter, die zufällig zugegen warf und es hörte, warf daraufhin ein. “Was?!? Reich soll die ‚Stern’ gewesen sein? Die hat doch bei mir regelmässig die Böden aufgewischt.”

Wie wurdest Du befreit?

Wir wurden nach weiteren traumatischen Erlebnissen von den Engländern befreit und machten uns dann auf den Weg nach Budapest zu einem bekannten Sammelplatz, um unsere Angehörigen zu suchen. Dort trafen wir tatsächlich zwei meiner Brüder. Mein Vater und ein anderer Bruder sind aber von den Nazis ermordet worden.

Wie hast Du es geschafft zu einem normalen Leben zurückzufinden?

Darüber habe ich oft nachgedacht. Ich führe vieles auf meine Mutter zurück. Ihre Anwesenheit während und nach dem Holocaust hat mir Sicherheit gegeben. Neben ihr fühlte ich mich einigermassen geborgen. Mir war auch stets bewusst, dass ich unwahrscheinliches Glück hatte, gemeinsam mit meiner knapp fünfzig-jährigen Mutter überlebt zu haben. Dieses Glück wurde vielleicht einem von zehntausenden Mädchen wie mir zuteil.

Du bist Jahre später nach Wien gekommen, hast Dich niedergelassen, eine Familie gegründet. Warum gerade Wien?

Das ist eine Frage, die mir oft gestellt wird. Wir hatten vor, von Budapest über Wien nach Israel auszuwandern. Kaum in Wien angekommen, hörten wir aber, dass mein Bruder, der uns nach einigen Tagen folgen sollte, in Budapest von der AVO (Allamvedelmi Osztaly), der geheimen, ungarischen Staatspolizei, verhaftet worden war. Wir wollten natürlich nicht weiter ohne ihn. Er blieb acht Jahre im Gefängnis. In dieser Zeit heiratete ich, und wir gründeten eine Familie.

Wie war das für Euch in Wien zu leben?

Wien ist eine grossartige Stadt. Wir, aber, hatten Schwierigkeiten, uns zu Hause zu fühlen, sahen uns ständig nur auf “der Durchreise”, schickten unsere Kinder in internationale Schulen und bläuten ihnen ein, stets wachsam zu sein. Misstrauen blieb lange unser ständiger Begleiter.

Hat sich dieses Mistrauen nach so vielen Jahren jetzt gelegt?

Nein, das kann ich für mich so nicht sagen. Sicher mache ich die jüngeren Generationen nicht für die Schuld ihrer Eltern verantwortlich und sehe auch, dass viele Menschen versuchen, sich konkret mit der Vergangenheit auseinanderzusetzten. Umso mehr schmerzt es mich, dass der Antisemitismus nie ganz besiegt wurde und dass er, in letzter Zeit, sogar wieder verstärkt zum Ausdruck kommt.

Wie stehst Du heute zum Thema Vergangenheitsbewältigung?

Ich sehe das differenziert, begrüsse die wissenschaftlichen Untersuchungen, die Gedenkstätten, die Arbeit mit Zeitzeugen und ihren Nachkommen. Die Popularisierung des Themas, etwa durch Filme, die als wichtige Mahnwerke gefeiert werden, etwa „Life Is Beautiful“ oder „Schindlers List“ haben objektiv ebenfalls ihren Stellenwert. Mir persönlich scheinen sie aber häufig verharmlosend. Die Wirklichkeit war schrecklicher, viel schrecklicher, als ihre verfilmte Darstellung.

Am 27. Januar jährt sich der internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Was bedeuten solche Gedenktage für Dich.

Sie bedeuten mir viel. Ich hoffe, dass sie gemeinsam mit anderen Aktionen und Initiativen die Erinnerung wachhalten. Ich weiss zwar, dass nichts meinen jungen Vater, meinen knapp-zwanzig jährigen Bruder, die sechs Millionen unschuldiger Opfer zurückbringen kann. Der Gedanke aber, dass ihr Leid einfach vergessen wird, dass über einen solchen Genozid Gras wachsen kann, dieser Gedanke ist mir unerträglich. Wichtig ist mir auch, dass Menschen, und zwar sowohl die Nachkommen der Opfer als auch jene der Täter, über den Holocaust Bescheid wissen, um die Erinnerung wachzuhalten und künftige Generationen zu mahnen, den Anfängen zu wehren.

Über Yvette Schwerdt

Yvette Schwerdt ist internationale Marketingexpertin und Wirtschaftsjournalistin. Sie schreibt und referiert regelmäßig über neue Trends und Entwicklung in ihrem Fachbereich. Besonders am Herzen liegen ihr auch die Themen Israel, jüdische Geschichte und jüdische Kultur. Yvette ist, aufgrund ihrer mehrsprachigen, multikulturellen Ausbildung und ihrer internationalen Laufbahn, in Israel, Amerika und im deutschsprachigen Raum gleichermaßen zu Hause.

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