Der Sturz des goldenen Bibi – zum Hintergrund eines Events

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Der Sturz des goldenen Bibi. Foto Miriam Alster/Flash90
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Am frühen Morgen des 6. Dezember stand Premierminister Benjamin Netanjahu lebensgross in Gold auf einem Sockel auf dem zentralen Rabin-Platz vor der Stadtverwaltung von Tel Aviv: Ein Witz, eine PR- Aktion oder ernstgemeinte Kritik am innenpolitischen Zustand Israels? Itay Zalait, ein bis dato unbekannter Künstler, wollte die “Grenzen der freien Meinungsäusserung” in Israel testen.

Die Tel Aviver Stadtverwaltung sah in dem unerlaubten Aufstellen der Statue eine Ordnungswidrigkeit und forderte per Zettel am Sockel dessen Entfernung. In der Zwischenzeit gab es eine rege Diskussion, viel Gelächter und noch mehr Selfies. In den Mittagsstunden wollte der Künstler sein Werk demontieren und abtransportieren lassen, als ein wutentbrannter Aktivist der linksgerichteten „Frieden Jetzt“ Organisation den goldenen Bibi vom Sockel stürzte. Er äusserte sich „gegen die Verherrlichung des Premierministers“. Ein weiterer Demonstrant stellte seinen Fuss auf den am Boden liegenden Kopf von Netanjahu. Die Szene erweckte Assoziationen mit dem Umsturz der Statue von Saddam Hussein in Bagdad.

Ein Jahrzehnt ohne Alternative

Die tagelang andauernden öffentlichen Diskussionen um das Event offenbaren die desolate innenpolitische Lage in Israel. Benjamin Netanjahu, im Volksmund „Bibi“ genannt, ist schon eine Dekade der unangefochtene Ministerpräsident Israels, mit einer Unterbrechung sogar insgesamt länger als der Rekordhalter und Staatsgründer David Ben Gurion. Netanjahu gilt als „alternativlos“, wie seine deutsche Kollegin Angela Merkel, die seit 2005 Amtsinhaberin ist. Doch im Gegensatz zu den Ministerpräsidenten Menachem Begin und Jitzhak Rabin hat sich um Netanjahu nie ein Personenkult entwickelt, indem etwa sein Foto zwischen Bilder jüdischer „Heiliger“ an Marktständen aufgehängt worden wäre. Das mag den Künstler bewogen haben, ihn als 4m hohes Denkmal aus Holz und Polymeren auf jenen zentralen in Tel Aviv zu stellen, der bis zur Ermordung Jitzhak Rabins „Platz der Könige Israels“ hiess.

Jael Dayan, die linksgerichtete frühere Stadtabgeordnete und Tochter des Generals Mosche Dayan, kritisierte die Aufstellung eines „Goldenes Kalbes“. Damit lieferte sie das Stichwort für eine historische Symbolik. Moses hatte den Sinai-Berg erklommen, um von Gott die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten in Empfang zu nehmen, während das ungeduldige Volk sich des Götzendienstes besann und ein „Goldenes Kalb“ schuf. Die israelischen Kritiker Netanjahus werden nicht müde, ihrem Premierminister und seiner Gattin Sarah Verschwendungssucht, Luxusleben und freizügiges Ausgeben von Steuergeldern für Pistazieneis, Wein und dem Einbau eines Doppelbettes bei Flügen nach England und New York vorzuwerfen. Es handelt sich hierbei um eine andauernde Diffamierungskampagne, wobei sich die meisten Vorwürfe als falsch oder strafrechtlich irrelevant erwiesen. Dennoch huldige das Volk bei Neuwahlen immer wieder diesem „Goldenen Kalb“, anstatt zur Vernunft zu gelangen und endlich einen anderen Politiker zu wählen.

Keine Lust auf Experimente

Tatsache ist, dass die israelische Linke, im Wesentlichen durch Selbstverschulden, zur elektoralen Irrelevanz abgesunken ist. Nur in der linksintellektuellen „Blase“ von Tel Aviv, bei den Medien und allen voran bei der Zeitung Haaretz, wird den „Linken“ noch als „Erlösern“ gehuldigt.

Die Masse der Israelis hält nicht mehr viel von den Osloer Verträgen, von Konzessionen an die Palästinenser oder von einer „Zwei-Staaten-Lösung“, solange die Palästinenser nach Selbstmordattentaten jetzt mit Messern oder Brandstiftern gegen Israel ankämpfen. Einen „Frieden“, von dem man in Europa träumt, hält die Mehrheit der Israelis derzeit für ausgeschlossen. Die vermeintliche „Angstmache“ Netanjahus ist für Viele eine bittere Wirklichkeit. Die antisemitische Hetze der Autonomiebehörde, die Vernichtungsabsichten des Iran, die täglichen Terroranschläge und nicht zuletzt die jüngste „Feuer-Intifada“ benötigen keine „Angstmache“ von Seiten der Regierung, um als persönliche Bedrohung wahrgenommen zu werden.

Umgekehrt setzen auch die israelischen Linken „Angstmache“ als Masche ein, um Gefolgschaft und Wähler zu werben. Wer gegen die Errichtung eines palästinensischen Staates sei, also gegen die „Zwei-Staaten-Lösung“, werde am Ende mit einem binationalen Staat konfrontiert sein, über kurz oder lang mit einer arabischen Mehrheit. Denn selbstverständlich müsste dann Millionen Palästinensern aus Gaza, dem Westjordanland und den zurückströmenden palästinensischen Flüchtlingen aus Nachbarländern gleichberechtigt die (israelische) Staatsbürgerschaft verliehen werden.

Das ist ein Horrorszenario, dem selbst noch so Palästina-freundliche Israelis nicht zustimmen können. Denn das wäre das Ende Israels und des Zionismus, der Idee eines jüdischen Nationalstaates, in dem verfolgte Juden aus aller Welt jederzeit eine Zuflucht finden können. Die Juden wären dann wieder Minderheit in einem arabischen Staat. So wie manche Palästinenser reden, hätten Juden hier keine Zukunft mehr.

Keine Lösung – nirgends

Grundsätzlich gibt es also zwei Seiten: die rechten Verfechter eines „Gross-Israel“ mit dem Traum, die biblischen Provinzen „Judäa und Samarien“ zu annektieren und die Befürworter der Errichtung eines Staates Palästina in den Grenzen von 1967. Die Linken argumentieren mit Worthülsen wie „Gerechtigkeit“ und der Sorge um „Bürgerrechte für die Palästinenser“. Die Rechten klammern sich an biblische Romantik. Beide Seiten blenden einen wesentlichen Punkt aus: Was ist mit den Autonomiegebieten, die infolge der Osloer Verträge 1993 entstanden sind? Dort verfügen die Palästinenser über volle Bürgerrechte, einen Pass, eigene Gesetze und über ein seit 2007 aufgelöstes Parlament. Die im annektierten Ost-Jerusalem unter „israelischer Besatzung“ lebenden Araber/Palästinenser haben auf eigenen Beschluss hin das israelische Angebot ausgeschlagen, die Staatsbürgerschaft anzunehmen und so in den Genuss eines israelischen Passes und dem Wahlrecht zur Knesset zu langen. Sie halten fest an ihrem jordanischen Pass, sind nur „Bewohner Israels“ und boykottieren die Stadtratswahlen in Jerusalem. Obgleich sie die mangelnde Vertretung im Stadtparlament selber verschulden, hindert es sie nicht daran, sich lautstark über die Vernachlässigung ihrer Viertel zu beklagen. Ihre Weigerung, Israels „Besatzung“ anzuerkennen, ist stärker, als der Wille, mit demokratischen Mitteln an der Gestaltung ihrer Stadt mitzuwirken.

Weder die rechten Befürworter eines „Gross-Israel“ noch die linken Anhänger einer Zwei-Staaten-Lösung setzen sich mit dem Schicksal der Menschen unter palästinensischer Selbstverwaltung auseinander.

Wenn die Rechten von „Annexion“ des Westjordanlandes reden, meinen sie nur die Übertragung israelischer Gesetze auf die Siedlungen und die Gebiete unter israelischer Kontrolle. Niemand redet von einer Einverleibung des 2005 geräumten Gazastreifens oder der grossen palästinensischen Städte wie Hebron, Ramallah oder Nablus. Genauso wenig diskutiert die Linke über das Schicksal der Autonomiegebiete im Falle eines künftigen Zweivölkerstaates. Wollen sie etwa die von ihnen eigenhändig geschaffene Autonomiebehörde mitsamt den dort herrschenden Gesetzen abschaffen?

Solange dies und viele andere Fragen nicht geklärt und ausdiskutiert ist, kann man weder die Position der Linken noch der Rechten als „einzigen“ Weg zu einer Lösung des Konflikts ernst nehmen.

Die Statue ist abtransportiert, Bibi bleibt und die Diskussion geht weiter.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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