Brexit – ein Blickwinkel aus Jerusalem

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Volksentscheide, in der Schweiz schon fast ein Nationalsport, sind für Israelis etwas sehr Exotisches – denn in Israel hat es niemals einen gegeben.

Trotzdem war das Brexit-Referendum nichts Ungewöhnliches für Israel – nicht nur aufgrund Europas zentralem Stellenwert in der israelischen Psyche, sondern auch wegen des besonderen nahöstlichen Kontextes des britischen Dramas.

Historiker werden wahrscheinlich zustimmen, dass die vielen Bürgerkriege im Nahen Osten einen wesentlichen Einfluss darauf hatten, was gerade am anderen Ende des Mittelmeeres geschehen ist. Hätte es die Flüchtlingsströme aus Syrien, dem Irak und aus Libyen nicht gegeben, hätten die Migranten nicht das Meer überschwommen und die Europäer hätten nicht das Gefühl gehabt, eine Invasion würde stattfinden.

Sicher gab es auch viele andere Gründe für das britische Votum, z. B. Unzufriedenheit mit den nicht gewählten Beamten in Brüssel, die die Souveränität der gewählten Regierungen Europas beeinträchtigen und ihnen die Macht nehmen. Es sind sich jedoch alle einig, dass die Flüchtlingskrise eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung der Leave-Wähler spielte und dass es bei dieser Krise hauptsächlich um den Nahen Osten geht.

Ironischerweise lag der Nahe Osten im Mittelpunkt des ersten Versuchs des europäischen Projekts, einen Sprung von der Wirtschaftsagenda seiner Gründer zu den politischen Entwürfen seiner Nachfolger zu machen. Das geschah auch in den aufregenden Tagen nach dem Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten, das die USA ausgehandelt hatten.

Aus Neid auf Washingtons Erfolg und auf der Suche nach einem Grund, sich ohne interne Auseinandersetzungen zu vereinen, erkannte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1980 die PLO als Vertreter des palästinensischen Volkes an und rief Israelis und Palästinenser dazu auf, die Zwei-Staaten-Lösung umzusetzen. 13 Jahre später wurden die Oslo-Abkommen unterzeichnet.

Europa nahm hierbei nicht nur die Rolle des Organisators, sondern auch die des Inspirators ein. Europa – so dachten wir Israelis voller Bewunderung – hatte es geschafft, alte Feindseligkeiten beiseite zu schieben, Grenzen abzubauen und Regionen zu integrieren. Sicherlich würde der Nahe Osten dasselbe tun können.

Die Mehrheit der Israelis, die Jitzchak Rabin und anschliessend Ehud Barak wählte, glaubte den Europäern, als diese versicherten, Jassir Arafat hätte den Weg der Gewalt verlassen und wäre lediglich an einem säkularen, demokratischen und entmilitarisierten Staat interessiert, um friedlich Seite an Seite mit dem jüdischen Staat zu leben.

Die folgende palästinensische Gewalt, Islamismus, Autoritarismus und Antisemitismus überzeugten eine kritische Masse Israelis jedoch davon, dass Europas Zusicherungen bestenfalls fraglich und schlimmstenfalls haltlos waren. Aus diesem Grund hat die Arbeitspartei seit 17 Jahren keine israelische Wahl mehr gewonnen.

Brüssel hat diese einfachen Fakten jedoch konsequent geleugnet, sogar nachdem Israel im Sommer 2000 in Camp David „Land für Frieden“ anbot, nur um daraufhin kategorisch abgewiesen und im letzten Jahrzehnt mit Selbstmordanschlägen konfrontiert zu werden.

Nachdem der Palästinenserführer Mahmud Abbas islamistische Parolen geäussert hatte – z. B. „die Juden entweihen die al-Aqsa-Moschee mit ihren schmutzigen Füssen“ – wurde er von den europäischen Regierungschefs nicht zurechtgewiesen. Sie haben auch nichts dazu gesagt, dass er seit seinem Wahlsieg vor elf Jahren keine Wahlen mehr abgehalten hat.

Solche Abweichungen von der Wahrheit und Aufrichtigkeit haben dazu geführt, dass viele Israelis der Europäischen Union misstrauen und darin eine Organisation sehen, die ihre Bereitschaft verloren hat, der Realität ins Auge zu sehen und zu ihren Fehlern zu stehen.

Nun stellt sich heraus, dass die Briten dieses Gefühl der Israelis teilen. Und hinter den Briten lauern Millionen von Kontinentaleuropäern, die sich ebenso von Brüssels Utopismus, Starrsinn und Bevormundung bedroht fühlen.

Viele vermuten, das britische Votum sei der Anfang vom Ende des grossen Experiments eines vereinten Europas. Wenn dem so ist, werden sich Historiker fragen, ob es nicht eine Reinkarnation von Europas kolonialistischen Missgeschicken war, wobei Bürokraten in entfernten Hauptstädten nicht verstanden, wie unwillkommen sie in den weit entfernten Gebieten waren, die sie regieren wollten.

Historiker werden auch feststellen, dass der Nahe Osten, in dem Europa erstmals versuchte, sich imperial zu verhalten, letztendlich seinen Untergang ausgelöst hat.

Und sie werden auch darauf hinweisen, dass die Schweizer, die 2001 gegen einen EU-Beitritt stimmten, schon vor anderen verstanden, dass ihre alpine Abgeschiedenheit besser ist als Brüssels Umklammerung.

Über Amotz Asa-El

Amotz Asa-El ist leitender Berichterstatter und ehemaliger Chefredakteur der Jerusalem Post, Berichterstatter Mittlerer Osten für Dow Jones Marketwatch, politischer Kommentator bei Israel's TV-Sender Channel 1 und leitender Redakteur des Nachrichtenmagazins Jerusalem Report.

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