Wurden Israels jemenitische Kinder entführt? Diese Frage erschüttert Israel erneut

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Yossy Gamliel von der Organisation "Achim Vekayamim" spricht vor dem Ausschuss. Foto Tsachi Miri/TPS
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Ein schmerzhaftes Kapitel der israelischen Geschichte – das mysteriöse Verschwinden bzw. die Entführung von hunderten von jemenitischen Kindern kurz nach der Staatsgründung – ist während einer ausserordentlichen Knesset-Sitzung letzte Woche erneut zur Sprache gekommen und erschüttert das ganze Land.

von Michael Zeff/TPS

Während einer Sitzung des Knesset-Komitees für Verfassung, Gesetz und Recht wurde beschlossen, die Freigabe aller Protokolle und des gesamten Archivmaterials verschiedener nationaler Untersuchungsausschüsse zu fordern, die sich mit dem sogenannten „Fall der jemenitischen Kinder“ befassen. In diesen geht es um die erstaunliche Feststellung, dass angeblich zwischen 1948 und 1954 hunderte neugeborener Babys von neu zugewanderten Einwanderern, in erster Linie Jemeniten, von den Behörden entführt und zur Adoption an aschkenasische Israeliten und in Übersee lebende Juden übergeben wurden.

„Aufgrund der heutigen Debatte hat der Vorsitzende des Komitees, MK Nissan Slomiansky, eine Erklärung herausgegeben, in der er die Regierung dazu auffordert, alle Protokolle und alle betreffenden Dokumente freizugeben“, sagte der Sprecher des Komitees, Shimon Malka, gegenüber der Nachrichtenagentur Tazpit (TPS). „Sollte die Regierung dieser Anfrage nicht nachkommen, so wird das Komitee einen entsprechenden Gesetzesentwurf einreichen.“

Die Angelegenheit wurde schon mehrfach untersucht, die Protokolle und entscheidende Dokumente blieben jedoch unter Verschluss.

Yosef Gamliel, ein jemenitischer Einwanderer, der vor dem Knesset-Komitee ausgesagt hat, erzählte die Geschichte seines vermissten Bruders.

„Ich habe einen kleinen Bruder, Yochanan, der 1954 geboren und kurz nach seiner Geburt in das Kaplan-Krankenhaus in Ashkelon gebracht wurde. Wenige Tage nach seiner Einlieferung wurde uns vom Krankenhaus gesagt, dass er aus medizinischen Gründen in eine andere Einrichtung in Jerusalem gebracht werden musste. Aber als wir schliesslich in Jerusalem ankamen – was in den 50er Jahren keine einfache Reise war – wurde uns nur gesagt, das Yochanan gestorben und bereits vor unserer Ankunft beerdigt worden sei.“

Ein Fall, der eine erstaunliche Ähnlichkeit mit hunderten von anderen dokumentierten Fällen im ganzen Land aufweist. Familie Gamliel hat nie eine Sterbeurkunde oder einen Autopsiebericht erhalten. Auch wurde ihr nie der genaue Bestattungsort mitgeteilt.

Zwischen 1967 und 2001 wurden vier verschiedene nationale Untersuchungsausschüsse von den verschiedenen Premierministern ins Leben gerufen, um die von den Familien der verschwundenen Kinder aufgestellten Behauptungen zu untersuchen. Diese Ausschüsse haben fast 1.500 Einzelfälle untersucht und sind zu dem Schluss gekommen, dass 1300 Kinder gestorben seien, zwei adoptiert wurden und der Verbleib der Übrigen unbekannt sei. Die Untersuchungsbeauftragten führten die Verwirrung auf die Sprachbarriere bei den neu zugewanderten Einwanderern und das Durcheinander in den frühen amtlichen Unterlagen des Landes zurück.

Trotzdem hatten die jemenitischen Familien weiterhin den Verdacht, dass ihre Kinder systematisch gestohlen und an andere Eltern übergeben worden waren – eine Sorge, die durch die sensationelle Entdeckung einer israelischen Frau, Tzila Levine, im Jahr 1997 gestützt wurde. Aufgrund eines DNA-Tests konnte festgestellt werden, dass sie das biologische Kind einer jemenitischen Mutter war, deren Baby auf mysteriöse Art und Weise verschwunden war.

„In den 80er Jahren habe ich eine Aussage vor dem Nationalkomitee gemacht – aber erst lange danach hat mir der Staat eine Sterbeurkunde ausgestellt und den Beerdigungsort in Jerusalem mitgeteilt. Aber dort gab es kein Grab mit dem Namen meines Bruders und es gab keine Möglichkeit, einen Körper exhumieren und identifizieren zu lassen,“ so Yosef Gamliel.

Nachdem er während seiner Kindheit versucht hatte herauszufinden, was mit seinem Bruder passiert war und die Sache abzuschliessen, hat Gamliel angefangen Jura zu studieren. Heute führt er als Mitglied der Organisation Achim Vekayamum (hebräisch für „Brüder und immer noch hier“) zahlreiche Prozesse gegen verschiedene öffentliche Einrichtungen, um die Aufdeckung von Informationen, die ihn oder andere Familienmitglieder betreffen, die ebenfalls Kinder verloren haben, zu erwirken.

„Es ist mir erst letztes Jahr gelungen, an die medizinische Akte meines eigenen Bruders heranzukommen“, sagte Gamliel. In dieser befand sich eine handgeschriebene Anmerkung, die lautete: PATIENT „NACH HAUSE“ ENTLASSEN – WOHIN??

Scheinbar hatte jemand das Verschwinden des Babys Yochanan bemerkt und eine einfache, ominöse Frage notiert, um zu fragen, was mit ihm passiert sei. Die Antwort auf die Frage ist weiterhin unbekannt.

„Ich kann also immer noch nicht mit Sicherheit sagen, ob mein Bruder tot ist oder noch lebt“, sagte Gamliel.

Der Fall der jemenitischen Kinder ist wieder an die Öffentlichkeit gelangt und erfährt eine bisher noch nie dagewesene Unterstützung, nachdem die israelische Moderatorin Rina Matsliah im Mai in ihrer Show „Meet the Press“ auf Channel 2 dieses Thema mit Unterstützung eines persönlich betroffenen israelischen Abgeordneten aufgegriffen hat.

„Ich beschäftige mich mit diesem Problem, seit ich in mein Amt berufen wurde. Ich belästige den Premierminister jeden Tag damit. Ich habe Hand in Hand mit Rina Tasliah zusammengearbeitet, um diese Geschichte ins Fernsehen zu bringen, und es hat funktioniert – endlich haben wir eine bisher noch nie dagewesene öffentliche Unterstützung von den höchsten Stellen“, sagte die Likud Parlamentarierin Nurit Koren dem TPS. „Ich habe zwei Cousins, die meinen Tanten und Onkeln väterlicher- und mütterlicherseits weggenommen wurden. Auch die Schwester meines Ehemannes wurde uns genommen. Deshalb liegt mir dieses Problem im Blut.“

Premierminister Benjamin Netanyahu persönlich ordnete an, die Archive zu öffnen. Es kam auch zu einem privaten Treffen mit Yosef Gamliel.

„Das Verschwinden der jemenitischen Kinder ist eine offene Wunde, die für die Familien, die bis heute nicht wissen, was mit ihren verschwundenen Kindern passiert ist, immer noch blutet“, sagte Netanyahu in einer Videobotschaft, die letzte Woche auf seiner Facebook-Seite gepostet wurde. „Ich verstehe bis heute nicht, warum diese Dokumente als geheim eingestuft werden. Wir werden das untersuchen und wir werden daran arbeiten.“

„Ich bin sehr glücklich darüber, dass sich erstmals in der Geschichte ein Premierminister aktiv an der Aufklärung des Falles beteiligt, den Familien seine öffentliche Unterstützung zusichert und sein Interesse an der Öffnung der Archive äussert“, sagte Koren. „Aber auch der Premierminister steht nicht über dem Gesetz und es gibt bürokratische und rechtliche Hindernisse, die durch fortlaufende Aktivitäten im Knesset und in der Regierung aus dem Weg geräumt werden müssen.“

Sowohl Koren als auch Gamliel haben bestätigt, dass Netanyahu entschieden hat, den neu gewählten Minister Tzachi Hanegbi mit der Untersuchung des Falls der jemenitischen Kinder zu beauftragen.

Für Gamliel und die anderen Familien der vermissten Kinder hört sich das neu erweckte Interesse an der Angelegenheit vielversprechend an. „Zum ersten Mal in 60 Jahren hört die Regierung den Jemeniten zu. Und es ist das erste Mal, dass jemand mit uns sympathisiert und bereit ist, solche Massnahmen in die Wege zu leiten“, sagte Gamliel.

2 Kommentare

  1. Einige der genannten Fakten deuten auf einen handfesten Skandal hin. Netanyahu sollte weiterhin persönlich darauf dringen, dass hier alle Akten und Vorgänge offengelegt werden. Zum Einen, um Licht in das Geschehene zu bringen und den Verdacht zu klären ob hier eine Stelle gemauert hat, zum Andern um nötigenfalls die israelische Justiz auf den Fall anzusetzen und zum Dritten um für die betroffenen Familien diesen Alptraum wenigstens nachträglich aufzulösen. Ich hoffe, dass sich am Ende alles als weniger schlimm herausstellt bzw. als Einzelfälle, denen keine Systematik zugrunde liegt – alle anderen Annahmen sind letztlich nur schwer vorstellbar.

  2. Bei aller Bitterkeit: Dies öffentlich zu machen, die Fälle zu untersuchen und besser spät als nie einzugreifen und Massnahmen zu treffen, wäre in KEINEM anderen (arabischen) Land der gesamten Region möglich. Und dies nach so langer Zeit, schon die Ermordeten von vorgestern sind auf ewig verschwunden, alle Spuren verwischt …

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