Eine Frage von wessen Moral?

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Foto Facebook/Dror Zichermann
Lesezeit: 4 Minuten

Ein tödlicher Vorfall in Hebron am Donnerstag, 25. März 2016 hat in Israel eine umfassende Diskussion über die Moral der israelischen Armee ausgelöst. Die Geschichte seiner Aufarbeitung erweist sich als filmisches Drama in mehreren Akten.

1. Vorfilm mit Untertitel
Zwei Palästinenser hatten mit Messern einen Soldaten in Tel Rumeida niedergestochen und wurden auf ihrem Weg nach Hebron von Soldaten gestellt und angeschossen. Abed al-Fattah Yusri al-Sharif lag verletzt aber noch lebend auf der Strasse. Ein palästinensischer Aktivist der israelischen Menschenrechtsorganisation Betselem, Abu Shamsiya, filmte ohne Ton, wie sich ein Soldat, Elor Azraya, dem Verletzten näherte und ihn mit einem Kopfschuss tötete. Dieser kurze Film wurde am Donnerstag im Kanal 2 des israelischen Fernsehens ausgestrahlt und löste sofort eine heftige Diskussion um die „aussergerichtliche Hinrichtung“ und die kaltblütige Ermordung eines wehrlosen Palästinensers aus. 

2. Erster Akt mit O- Ton
Keine 24 Stunden später tauchte weiteres Filmmaterial auf. Diesmal sind Sanitäter und Soldaten rund um den Verletzten zu sehen und laute Rufe: „Nicht nähern, solange ein Feuerwerker den Mann nicht auf eine Bombe untersucht hat. Lebensgefahr.“ Und ähnliches. Der am Boden liegende Mann trug an einem besonders heissen Tag mit einer Temperatur von 25 Grad einen dicken Pullover, was die Soldaten schon misstrauisch gestimmt hatte. Ebenso war jetzt bei dem etwas anderen Blickwinkel der Kamera deutlich eine Delle unter dem Pullover zu sehen. Ein Befehlshaber der Rettungsmannschaften gab die Weisung aus, den Verletzten nicht zu behandeln, solange er nicht freigegeben worden ist. Mit Genehmigung eines Vorgesetzten näherte sich der Soldat Elor Azraya dem Verletzten und tötete ihn mit einem Kopfschuss. Wäre die vermutete Bombe am Körper des Palästinensers explodiert, hätte sie dutzende Soldaten, Sanitäter und Neugrierige wie Journalisten mit in den den Tod gerissen. Der Soldat Azraya erwies sich also als Lebensretter und nicht als gewissenloser Mörder. 

3. Zeugen
Am Tag des Vorfalls wurde Azraya von der Militärpolizei festgenommen und vor einem Militärgericht in Jaffo wegen Mordes angeklagt. Die Polizei versprach eine eingehende Untersuchung des Falles, während Politiker, darunter der Ministerpräsident, Staatspräsident Rivlin und andere noch vor dem Auftauchen des zweiten Films ihre Kommentare abgaben. So schrieb der Premierminister auf Facebook (auf Hebräisch): „Die Attacken auf die Armee am Wochenende sind empörend und verdrehen die Wahrheit. Zahal (die israelische Armee) ist moralisch und exekutiert niemanden. Die Zahal Soldaten blockieren mit ihrem Körper mörderische Terrorattacken auf israelische Bürger und können jegliche Unterstützung erwarten. Was den jüngsten Vorfall angeht, so vertraue ich auf eine eingehende, verantwortliche und faire Untersuchung von Zahal, so wie Zahal es immer tut.“  Andere Politiker verurteilten den „kaltblütigen Mord“ und sahen darin eine „Wende“ im Selbstverständnis der Armee. Arabische Politiker und Abgeordnete sahen in dem Vorfall eine „Norm“, die jetzt endlich ans Tageslicht gekommen sei. 

4.  Fakten
Ein Anwalt sagte, dass jede Äusserung zur Verteidigung des Soldaten oder zu dessen Verurteilung vorschnell sei, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen seien. Während palästinensische Medien auf der Facebook Seite des Soldaten rechtsradikales Gedankengut und begeisterte Zustimmung zum rassistischen Jerusalemer Fussballklub Beitar entdeckten, gab die Geschichte eines Ex-Soldaten, ebenfalls auf Facebook, der öffentlichen Diskussion eine neue Wende.

Dror Zichermann beschrieb einen Vorfall vom Dezember 2005 bei Tulkarem, während einer Routinepatrouille. Die Soldaten erhielten Informationen über einen geplanten Selbstmordanschlag in Israel und dass sich ein Terrorist (Jahrgang 1976) auf dem Weg befinde. Sie errichteten eine Strassensperre und entdeckten den Mann zwischen anderen in einem Taxi. Trotz des heissen Tages trug er eine dicke Lederjacke. Zichermann war misstrauisch, aber sein Befehlshaber Uri Binamo verbot ihm, zu schiessen. Binamo befahl dem Palästinenser, seine Jacke zu öffnen. Wenig später drückte der Palästinenser auf einen versteckten Zündknopf unter seiner Jacke. Der Palästinenser und Befehlshaber Binamo waren sofort tot, während Zichermann schwer verletzt überlebte und seitdem körperlich behindert ist.

Hintergrund
Palästinenser mit Sprengstoffjacken sind keine Seltenheit. Ihre Unterstützer monieren vermeintlich „erniedrigende“ Vorsichtsmassnahmen, wie das Ausziehen der Hemden bei Sicherheitskontrollen, diskutieren aber nicht die Moral des Vorgehens, mit Sprengstoffjacken, vor allem Rettungsmannschaften und Zivilisten willkürlich in den Tod zu reissen. „Legitimer Widerstand“ oder „Befreiungskampf“ nennt man dann diese kaltblütigen Selbstmordattentate. Dass dabei jegliche Menschenrechte ausser Kraft gesetzt werden, ist keiner Erwähnung wert . Gleiches gilt für Menschenrechtsorganisationen, die zwar Israel kritisieren, aber selten ein böses Wort über diese Attentäter verlieren. Das jüngste Beispiel ist die NGO Betselem, die den Vorfall in Hebron so einseitig filmte, dass aus einer möglichen Notwehr des Soldaten ein eindeutiger Fall von kaltblütiger Hinrichtung wurde. 

Fazit
In wie weit der junge Soldat schuldig zu sprechen ist, wird man nach einer entsprechenden Gerichtsverhandlung sehen. Aber eines ist schon jetzt klar: Seine mediale Vorverurteilung  verletzt alle Regeln des Anstands – von journalistischer Sorgfaltspflicht ganz zu schweigen.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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5 Kommentare

  1. “Die Behauptung mit dem Sprengstoffgürtel…”
    Niemand behauptet es, auch der Autor nicht. Man vermutete “lediglich” eine Bombe

    “…alle vorgebrachten Argumente entlasten einseitig den Beschuldigten.”
    Ich hab es nicht erkannt. Vor allem bemüht sich der Autor um eine Balance.
    Und “In wie weit der junge Soldat schuldig zu sprechen ist, wird man
    nach einer entsprechenden Gerichtsverhandlung sehen”.

  2. Es gibt einen dicken Unterschied zwischen “mit in den Tod gerissen” und “in den Tod befördert”, nicht wahr?

  3. Es gibt einen dicken Unterschied zwischen “mit in den Tod gerissen” und “in den Tod befördert”, nicht wahr?

  4. “Die Behauptung mit dem Sprengstoffgürtel…”
    Niemand behauptet es, auch der Autor nicht. Man vermutete eine Bombe, befürchtete sie.

    “…alle vorgebrachten Argumente entlasten einseitig den Beschuldigten.”
    Ich hab es nicht erkannt. Vorerst kümmert sich der Autor um eine Balance. Und “In wie weit der junge Soldat schuldig zu sprechen ist, wird man nach einer entsprechenden Gerichtsverhandlung sehen”.

  5. Der getötete Palästinenser war ohne jeden Zweifel ein Terrorist, der bei der Ausübung seines „Hobbys“ – Juden zu ermorden – dem selbstgewählten Risiko zum Opfer gefallen ist, glücklicherweise bevor er seine Vorlieben in die Tat umsetzen konnte. Über den verhinderten Mörder braucht man ebenso wenig Worte verlieren wie über die als angebliche Menschenrechtsorganisation firmierende B’tselem, die wohl noch nach einer Erklärung sucht um die zufällige Anwesenheit ihres Vertreter vor Ort plausibel klingen zu lassen.

    Das ist eine Seite. Das andere Seite ist, dass der israelische Soldat ihn erschossen hat, als er bereits „neutralisiert“ am Boden lag. Die Behauptung mit dem Sprengstoffgürtel halte ich, trotz einiger aufgeführter entlastender Aussagen, immer noch für eine bloße Schutzbehauptung. Ich vermute, dass die zuständigen Stellen der IDF in ihrer Untersuchung zum gleichen Ergebnis kommen werden – und bislang ist absolut nichts Gegenteiliges bekannt geworden. Wäre tatsächlich ein Sprengstoffgürtel gefunden worden, ist kein Grund denkbar, dies nicht umgehend der Presse mitzuteilen.

    Der Soldat hat etwas getan, was er nicht tun durfte: Er hat eigenmächtig, ohne zwingende Notwendigkeit und in einem zeitlichen Abstand zur Tat einen bereits am Boden liegenden Terroristen erschossen. Ich maße mir nicht an, ihn persönlich zu verurteilen, im Gegenteil kann ich seine Handlungsweise sogar in einem gewissen Rahmen nachvollziehen: Er hat den Anschlag erlebt, seinen verletzten Kameraden gesehen und dann ist seine Sicherung durchgebrannt.

    Doch dabei kann es nicht belassen werden. Der Autor warnt vor einer Vorverurteilung und verweist auf die noch ausstehenden offiziellen Untersuchungsergebnisse. Aber alle vorgebrachten Argumente entlasten einseitig den Beschuldigten. Es ist nun mal so, dass das Stehen auf der „richtigen Seite“ nicht automatisch mit einem Freibrief verbunden ist und eine individuelle Schuld bzw. Fehlverhalten ausschließt. Genau darum geht es hier.

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