„Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen…”

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Foto Bundesarchiv Bild 146-1970-083-42, Magdeburg, zerstörtes jüdisches Geschäft". Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia Commons.
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„Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet“. Hermann Göring, 12. November 1938

Mit Novemberpogrom,  Kristallnacht oder Reichskristallnacht wird die Nacht vom 9. zum 10. November 1938 bezeichnet, als im ganzen deutschen Reich – zu welchem seit März 1938 auch Österreich gehörte-  mehr als 1400 Synagogen in Flammen aufgingen und Tausende jüdische Geschäfte und Firmen geplündert und zerstört wurden.

Als offizieller Vorwand für die Ausschreitungen, die bereits am 7.November begonnen hatten,  war das Attentat des 17jährigen,  jüdischen Herschel Grynszpan am 7.November in Paris auf den der NSDAP Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath. Grynszpan hatte einige Tage davor gehört, dass seine Eltern zu den 17000 polnischen Juden gehörten, die im Oktober auf Befehl von Hitler nach Polen abgeschoben worden waren.

Während des Pogroms wurden bis mindestens 400 Juden ermordet oder in den Suizid getrieben. In den Tagen nach dem Pogrom wurden ungefähr 30,000 Juden von der deutschen Polizei verhaftet und in den Konzentrationslagern Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald interniert. Hunderte von Insassen überlebten die Lager nicht.

Schadenbegleichung
Für den von den Deutschen angerichteten Schaden musste die jüdische Bevölkerung aufkommen. Hermann Göring  rief  zwei Tage nach den Ausschreitungen, am 12.November 1938 , eine Konferenz ein, um den entstandenen Schaden einzuschätzen und Massnahmen zu seiner Behebung zu ergreifen.  Nachdem er hörte, in welcher Höhe Schaden angerichtet worden war, und noch nicht wissend, wie viele jüdische Bürger ihr Leben verloren hatten, rief er:“ Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet“.  Doch für den Schaden fand er schliesslich doch die geeignete Lösung :

„Der Arier kann keinen Schaden anmelden, weil er keinen hat. Der Jude ersetzt. Der Jude muss den Schaden anmelden. Er kriegt die Versicherung, aber die wird beschlagnahmt.“

Beschlossen wurde an dieser Konferenz, dass die nicht versicherten Verluste an jüdischem Eigentum überhaupt nicht behoben werden würden. Schmuck, Pelze, Silber und Gold, und jegliches Diebesgut sollte den jüdischen Besitzern nicht zurückgegeben werden. Gefundenes Gut, welches von Deutschen geplündert worden war, musste dem Staat gegeben werden. Deutsches Eigentum, welches zerstört worden war, vor allem Schaufensterscheiben und Konsumgüter, sollte von den Versicherungsgesellschaften den Deutschen erstattet werden. Jüdisches Eigentum, welches zerstört worden war, musste den Versicherungsgesellschaften mit der Anweisung gemeldet werden, die Zahlungen müssten nicht an die jüdischen Kunden sondern an die Regierung geleistet werden. Ausserdem wurde den Juden aufgetragen, den Schaden „zur Wiederherstellung des Strassenbildes“ zu beheben.

Anweisungen der Gestapo, Heinrich Müller, 9.November 1938
Am 9.November gingen folgende Anweisungen  in einem Fernschreiben an alle Stapo-Leitstellen in Deutschland:

  1. „Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden, insbesondere gegen deren Synagogen, stattfinden. Sie sind nicht zu stören. Jedoch ist im Benehmen mit der Ordnungspolizei sicherzustellen, dass Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen unterbunden werden können.
  2. Sofern sich in Synagogen wichtiges Archivmaterial befindet, ist dieses durch eine sofortige Massnahme sicherzustellen.
  3. Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20-30 000 Juden im Reich, Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe dieser Nacht.
  4. Sollen bei den kommenden Aktionen Juden im Besitz von Waffen angetroffen werden, so sind die schärfsten Massnahmen durchzuführen. [….]

Zusatz für Stapo Köln:
In der Synagoge Köln befindet sich besonders wichtiges Material. Dies ist durch schnellste Massnahmen im Benehmen mit SD sofort sicherzustellen. Gestapo II Mueller Dieses FS ist geheim. „

(Anmerkung Redaktion: Das Archiv der Synagogengemeinde Köln ist seit der Pogromnacht verschollen).

Heydrich präzisierte dann am 10.November die Anweisungen : „Geschäfte und Wohnungen dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden“,  „In Geschäftsstrassen ist besonders darauf zu achten, dass nicht-jüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden“.

„Achtung! Fertig machen zum Feuerlegen“

Brennende Synagoge von Baden-Baden. Foto Yad Vashem
Brennende Synagoge von Baden-Baden. Foto Yad Vashem

Es gibt viele und detaillierte jüdische Zeugenberichte über jene Tage und Nächte. So schrieb die erschütterte Schülerin Ruth Maier aus Wien am 11.November in ihr Tagebuch: „Sie haben uns geschlagen! Gestern war der schrecklichste Tag, den ich je erlebt habe. Ich weiss jetzt, was Pogrome sind, weiss, was Menschen tun können, die Ebenbilder Gottes. In der Schule sagte uns der Direktor: “Ja, also, sie zünden Tempel an, verhaften, schlagen, …vor der Tür steht ein Lastauto… Drei Professoren haben sie verhaftet.“ Dann werden wir nach der Reihe zum Telefon gerufen…wie in einem Schlachthaus…….[….] Juden wie Schlachtvieh im Lastauto…“

Am 15.November 1938 verbietet das Reichserziehungsministerium den jüdischen Schülern den Besuch allgemeiner Schulen.  Im Protokoll der Konferenz am 12.November  meint Joseph Goebbels dieses Thema auch einbringen zu müssen:

„Als letztes wäre noch folgendes vorzutragen. Es besteht tatsächlich heute noch der Zustand, dass jüdische Kinder in deutsche Schulen gehen. Das halte ich für unmöglich. Ich halte es für ausgeschlossen, dass mein Junge neben einem Juden im deutschen Gymnasium sitzt und deutschen Geschichtsunterricht erteilt bekommt. Ich halte es für notwendig, dass die Juden absolut aus den deutschen Schulen entfernt werden und man ihnen anheimgibt, innerhalb ihrer eigenen Kultusgemeinde selbst die Erziehung zu übernehmen.“

Berichtet wird, wie die Kinder im Jüdischen Kinderheim Karlsruhe  aus ihren Betten geworfen und auf die Strasse gejagt wurden.  In Mannheim wurden die Bewohner des Jüdischen Altersheims aus ihren Zimmern und aus dem Heim geworfen. Gemäss dem Bericht des Joint vom 30.November hatte der Bürgermeister aus Wartenstein selbst die Fackel getragen, mit welcher die Synagoge angezündet wurde. In Mödling bei Wien wurden die Juden gezwungen, die Thorarollen und Gebetsbücher in die Flammen der Synagoge zu werfen. Weiter steht im Bericht des Joint:

„Abgesehen von Berlin, wo dies nur in geringem Ausmass der Fall war, blieb in sehr vielen anderen Städten die Zerstörungswut nicht auf die Synagogen und jüdischen Geschäfte beschränkt. Unter anderem in Düsseldorf, Bochum, Essen, Oberhausen, Hagen, Königsberg, Leipzig, Chemnitz, Beuthen, Hindenburg, Nürnberg und Rostock drangen Banden in Privatwohnungen ein und zerstörten mehr oder weniger das gesamte Mobiliar. In vielen jüdischen Haushalten gibt es nach diesem Anschlag kein einziges unversehrtes Möbelstück oder einen andere heilen Gegenstand mehr. Bei der fanatischen Raserei der Horden, die im Übrigen oft schwer betrunken waren, war es unvermeidlich, dass Menschen brutal misshandelt oder gar getötet wurden. Es konnte auch nicht verhindert werden, dass verzweifelte Juden, die sich in ihrer Not nicht anders zu helfen wussten, Selbstmord begingen.“

Bericht des Schweizer Botschafters über sein Gespräch mit Ernst von Weizsäcker
Der Schweizer Botschafter in Paris,  W.Stucki, berichtet dem Chef des EDA, Bundesrat Motta am 15.11.1938 über das Attentat in Paris, und über sein Gespräch mit dem deutschen Staatssekretär Weizsäcker. Unter anderem berichtet er, dass er das Gespräch auf die „akute Judenfrage“ gebracht habe. Weizsäcker bedauere sehr, dass nun wiederum in der Welt eine sehr schlechte Stimmung gegen Deutschland geschaffen wurde. Die NSDAP sei derart im Kampf gegen die Juden „engagiert“, dass sie nicht mehr still halten könne.

Die noch in  Deutschland verbliebenen circa 500 000 Juden sollten unbedingt irgendwie abgeschoben werden, denn sie könnten in Deutschland nicht bleiben. Wenn, wie bisher, jedoch kein Land bereit sei, sie aufzunehmen, so gingen sie eben über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen.

Quellen:
– Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945: Herausgegeben im Auftrag des Bundesarchivs, des Instituts für Zeitgeschichte und der Universität Freiburg, von Götz Aly, Susanne Heim, Ulrich Herbert, Hans-Dieter Kreikamp, Horst Möller, Dieter Pohl und Hartmut Weber.
-Die Vernichtung der europäischen Juden, Teil I, Raul Hilberg
– Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern (DGDB) http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_id=1524