Plötzlicher Sturm überrascht Israel

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Foto Israel Electric Corporation Facebook
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Ein Sturm mit nicht vorausgeahnter Stärke sowie heftige Regenfälle haben entlang der Mittelmeerküste Israels zu schweren Überschwemmungen geführt. Bäume wurden ausgerissen und Baukräne sind umgestürzt.

Ein Israeli wurde durch eine umgefallene Mauer getötet. Mehrere Menschen wurden verletzt, als ein Solar-Wassertank auf das Dach eines Busses geflogen war. In Tel Aviv, Raanana, Kfar Saba, Natanja und anderen Städten entlang der Mittelmeerküste standen Strassen unter Wasser. Im Gazastreifen konnten mangels Infrastruktur die vom Himmel gefallenen Wassermassen nicht abfliessen. Erneut wurde Israel dafür beschuldigt, nicht etwa, weil der Liebe Gott die Gebete für Regen erhört habe, sondern weil Israel nicht-existente Staudämme geöffnet habe, um den Gazastreifen wegzuschwemmen.

Die jährlichen Herbststürme treffen die Israelis so unvorbereitet, wie Weihnachten die Europäer. Diesmal gab es tornadoartige Windstösse mit Geschwindigkeiten von über 130 Kmh. Umstürzende Bäume kappten Stromleitungen. Betroffen waren auch 350 Hochspannungsleitungen. Und so wie Israels Lehrer pünktlich eine Woche vor Beginn des neuen Schuljahres am 1. September in den Streik treten, wegen Gehältern oder überfüllter Klassenräume, haben die Mitarbeiter der monopolistischen Stromgesellschaft ausgerechnet aus Anlass des ersten Wintersturms einen Bummelstreik ausgerufen. Italienisch arbeiteten sie „gemäss den Vorschriften“. Techniker verweigerten Noteinsätze. Während zunächst etwa 80.000 Israelis in der Finsternis sassen und sich mit Kerzen behalfen, sitzen immer noch, 4 Tage nach dem Sturm, rund 4.000 Menschen ohne Strom da. Am Mittwoch behauptete die Stromgesellschaft, dass nur noch eine Wohnung angeschlossen werden müsse, während die Medien von über 1.700 Häusern ohne Strom berichten.

Mit Strom werden heutzutage nicht nur Glühbirnen betrieben. Bewohner von Hochhäusern mussten aus feststeckenden Fahrstühlen befreit werden. Kinder langweilten sich, weil die Computer nicht mehr funktionierten und in einigen Fällen blieb das Telefon stumm, während Handys nicht aufgeladen werden konnten. Echten Schaden erlitten die Hausfrauen. Sie mussten wegschmeissen, was sie in ihren Kühlschränken und Gefrierfächern gehortet hatten. Alles vergammelt. „Ich freue mich, wieder etwas essen zu können“, sagte ein kleines Mädchen im Fernsehen, als ihre Familie wenige Minuten nach der Rückkehr des Stroms befragt wurde.

Niemand weiss, wer für den Schaden aufkommen soll. Anwälte freuen sich schon auf die Sammelklagen, vor allem gegen die Stromgesellschaft. Doch die erklärte, für „höhere Gewalt“ nicht verantwortlich zu sein.

Selbstverständlich ist jetzt auch die Politik gefordert. Energieminister Juval Steinitz erklärte Israel zu einem Dritt-Welt-Land. Verkehrsminister Israel Katz forderte eine „unabhängige Untersuchung“. Der Abgeordnete Eitan Kabel, Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses, forderte eine eingehende Prüfung der Missstände, zumal der Arbeitsstreik der Stromarbeiter mit dem Wintersturm zusammen fiel. Das verlängerte das Leiden der energielosen Bevölkerung.

Es gab auch pikante Beschwerden. So leuchteten im Haus des Direktors der Stromgesellschaft, Ofer Bloch, alle Lampen, während die gesamte Gegend rund um seinem Haus in Finsternis getaucht war. Im Rundfunk verteidigte er sich gegen Vorwürfe der Bevorzugung. Er wohne in einem relativ neuen Haus. Deshalb sei er verschont geblieben.

Die Stromgesellschaft wurde gefragt, warum sie denn nicht jene Bäume gestutzt habe, die jetzt die Stromleitungen zerrissen haben. Die Antwort hätte Efraim Kischon hell begeistert:  Bäume seien geschützt und könnten nicht einfach gefällt werden. Dazu benötige es Genehmigungen der Naturschutzorganisation, des Umweltministeriums und anderer Behörden. Der Aufwand sei kompliziert. Zur Frage, wieso denn Stromleitungen nicht unterirdisch verlegt würden, hiess es, das sei sehr teuer.

Heftig wurde über das Monopol der Stromgesellschaft diskutiert und ihrem Schuldenberg in Höhe von mehreren Milliarden. Weil es in Israel keinerlei Konkurrenz gibt, wie in den meisten OECD Ländern, darf man sich nicht einmal stromerzeugende Solarplatten auf das Dach stellen. Private Stromerzeuger werden mit bürokratischen Mitteln gehindert, alternative Energiequellen zur Verfügung stellen.

Das hohe Defizit hat mehrere Gründe: Die Angestellten geniessen die höchsten in Israel gezahlten Gehälter. Zu Klassikern der Polemik gegen die Stromgesellschaft gehört die Behauptung, dass alle Mitarbeiter ihren Strom kostenlos beziehen. Die Gesellschaft behaupte, dass nur noch ältere Mitarbeiter davon profitieren. Denen könne man vertraglich abgesprochene Prämie nicht wegnehmen.

Ein weiteres Thema sind Milliardenschulden der palästinensischen Autonomiegesellschaft. Die Palästinenser im Westjordanland und sogar im Gazastreifen sind mangels eigenen Kraftwerken fast vollständig auf Stromlieferungen aus Israel angewiesen. Im Gazastreifen ist es nach Angaben von EU Beamten „nicht üblich“ Stromrechnungen zu zahlen. Im Westjordanland wurden bis vor kurzem aus politischen Gründen die Flüchtlingslager mit kostenlosem Strom beliefert. Ob inzwischen in jedem Haus ein Stromzähler installiert wurde, darf bezweifelt werden. Da aber die Autonomiebehörde vermeintlich kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch steht, trotz Finanzhilfe in Milliardenhöhe durch Geberländer, behauptet Ramallah, den israelischen Strom nicht bezahlen zu können. Wenn die Stromgesellschaft daraufhin droht, den Palästinensern den Strom zu sperren, klopft ihr die israelische Regierung auf die Finger. Das ist ein Tabu. Denn die palästinensische Bevölkerung könnte einen Aufstand starten… So wächst der Schuldenberg, wobei die Regierung offenbar mit Kredit für die Monopolgesellschaft bürgt, während ein Teil der Schulden auf die israelischen Kunden abgewälzt wird.

Mehrmals hat Israel Sanktionen gegen die Autonomiebehörde beschlossen, etwa als sie die Anerkennung bei der UNO oder beim internationalen Gerichtshof ersuchte. Israel behielt dann im Namen der Autonomiebehörde eingezogene Steuern und Zölle ein. Offiziell hiess es, dass mit den einbehaltenen Geldern die Schulden für Strom und Wasser abgetragen werden sollten. Aber wegen Druck der Amerikaner und der Europäer oder aus politischer Einsicht, wurden diese „Sanktionen“ nach kurzer Zeit wieder ausgesetzt. Menschenrechtsorganisation bezichtigten Israel der „Kollektivbestrafung“ der Palästinenser, während es wohl keine Kollektivbestrafung ist, wenn israelische Stromkunden die Rechnungen bezahlen müssen.

Rund um den Strom dreht sich auch die Lösung des Nahostkonflikts. So erklärte einst der (palästinensische) Bürgermeister von Tulkarem: „Alle Probleme wären gelöst, sowie alle Juden aus dem Land verschwunden sind. Nur den Strom sollten sie zurücklassen.“

Wer in Israel das Licht anknipst muss unweigerlich auch an „Naturschutz“, an den Konflikt mit den Palästinensern und problematisch gewachsene Wirtschaftsstrukturen denken. Und grösste Gefahr droht vom Wetter, als hätte es noch nie zuvor einen Herbststurm gegeben.

Update heute um 16:00 Uhr: In der Küstenregion fiel erneut Regen. In der Folge sind wieder 30.000 Haushalte vom Strom abgeschnitten. In Kfar Saba standen Strassen bis zu einem Meter hoch unter Wasser. Keller und Erdgeschosse wurden überschwemmt und das Wasser richtete erheblichen Schaden an. Der Grund: Die Stromgesellschaft hatte zwar Bäume gestutzt, aber das Laub nicht weggeräumt, wie es die Anwohner gefordert hatten und so verstopften die Gullis. 

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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