Juden in Europa: Bleiben oder auswandern?

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Ministerpräsident Benjamin Netanyahu rief die Juden Europas auf, nach Israel zu kommen. Man würde sie mit „offenen Armen“ aufnehmen. Französische Minister reagierten empört. Dänemarks Chefrabbiner Jair Melchior sagte: «Wir haben keine Angst.» Es sei das Ziel von Terrorismus, den Menschen Furcht einzuflössen. «Wir lassen uns nicht von Terroristen dazu zwingen, unser tägliches Leben zu ändern, in Angst zu leben und an andere Orte zu fliehen».

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, gab zu Bedenken, auch in Israel sei absolute Sicherheit vor terroristischen Anschlägen nicht gegeben. Die Bedrohung jüdischer Einrichtungen sei «letztendlich (…) ein weltweites Phänomen ».

In diese Diskussion fliesst auch Polemik ein. So wurde der israelischen Regierung vorgeworfen, 45 Mio. Euro bereitgestellt zu haben, um Juden aus Frankreich, Belgien und der Ukraine eingliedern zu können. Glauben Kritiker Israels etwa, dass die „Einladung“ als Scheck ohne Deckung gedacht sei? Im vergangenen Jahr sind über 8’000 Franzosen nach Israel eingewandert sind und 2015 wird mit 15.000 Neueinwanderern allein aus Frankreich gerechnet. Das kostet Geld. Ohne die Bereitstellung von Geldern wäre das sonst ein leeres Versprechen.

Die Frage einer jüdischen Masseneinwanderung nach Israel hat viele Aspekte. Die kann man auch ganz nüchtern betrachten.

Europa

Für Frankreich, Belgien, Dänemark und allen voran für Deutschland ist die Existenz jüdischer Gemeinden und deren Sicherheit eine Frage der Ehre und des Selbstverständnisses. Das schlechte Gewissen infolge des Holocaust spielt da genauso eine Rolle, wie der Anspruch, jedem (Mit-) Bürger Freiheit und Sicherheit zu gewähren. In Deutschland und Frankreich werden auf Staatskosten Polizei, Absperrungen und Überwachungskameras vor jüdischen Einrichtungen bereitgestellt. In der Schweiz müssen die Gemeinden die Kosten für ihre Sicherheit selber tragen. Eine Zustimmung zu Netanjahus Aufruf käme dem Eingeständnis eigener Unfähigkeit gleich.

Europäische Juden

Melchior, Schuster und andere jüdische Verantwortliche in Europa wollen nicht, dass ihre Schäflein verschwinden, nachdem sie mit grossen Mühen ihre zerstörten, nach Auschwitz deportierten Gemeinden wieder aufgebaut haben. Die 2.000 jährige Geschichte der Juden in Europa spielt genauso eine Rolle, wie die verständliche Weigerung, erneut dem Antisemitismus nachzugeben. Die Lage ist nicht mit 1933 zu vergleichen. Hätten die Juden Europas jedoch damals in Deutschland und dann in anderen Ländern geahnt, was ihnen bevorsteht, hätten sich vielleicht mehr retten können. Sogar in Deutschland verstanden einige wenige erst nach der „Kristallnacht“, dass sie sich dringend in Sicherheit bringen müssten. Können Melchior und Schuster wirklich die Verantwortung für die Sicherheit ihrer Gemeinden übernehmen?

Israel

Als Israel nach seiner Gründung 1948 wirtschaftlich noch gar nicht auf eigenen Beinen stand, hatte es die Holocaustüberlebenden aufgenommen. Dann kamen Anfang der 50er Jahre rund 800.000 jüdische Vertriebene und Flüchtlinge aus der gesamten arabischen Welt von Marokko über Jemen, Ägypten, Syrien und bis Irak nach Israel. Die arabische Welt wurde „judenrein“ gemacht. Die Vertriebenen mussten grosse Reichtümer, darunter Häuser, Landbesitz und Eigentum in Milliardenhöhe zurücklassen. In Israel wurden diese mittellosen Menschen erst in Zeltlager gesteckt, aber dann sehr schnell integriert, während die aus dem ehemaligen Mandatsgebiet Palästina geflohenen Araber (heute Palästinenser genannt) in Lagern festgehalten werden.

1990 kam nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Million Russen nach Israel. Und an einem Wochenende schickte Israel seine gesamte Luftflotte nach Addis Abeba, um auf einen Schlag die äthiopischen Juden zu retten. Zuvor waren Tausende zu Fuss durch die Wüste von Sudan geflohen. Mindestens 6.000 kamen dabei ums Leben, ehe der Rest mit amerikanischer Vermittlung heimlich nach Israel ausgeflogen werden konnte. Hinzu kamen Einwanderungswellen aus Polen und Rumänien. Israel hat millionenfach bewiesen, dass es unter schweren Opfern bereit und fähig ist, jedem Juden in der Welt eine Zuflucht zu bieten. Der Aufruf Netanjahus war deshalb weder neu noch ungewöhnlich. Er entspricht dem Kern des israelischen Selbstverständnis, seiner raison d’être. Netanjahus Ruf ist daher so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche.

Sicherheit und Identität

Nach den anti-israelischen Demonstrationen vom Sommer mit eindeutig antisemitischen Rufen wie „Juden ins Gas“, dürfte sich kaum ein Jude dem Urteil eines Richters in Wuppertal anschliessen, der einen Brandanschlag auf eine Synagoge als „Meinungsäusserung“ gewertet hat, nachdem die (palästinensischen) Täter erklärt hatten, damit lediglich ein „Zeichen gegen die Politik Israels“ setzen zu wollen. Juden machen weniger als ein Prozent der Bewohner Europas aus. In Dänemark und Deutschland sind es sogar nur der Bruchteil eines Prozents. Die Anschläge in Toulouse, Brüssel, im Hypercacher von Paris und zuletzt in Kopenhagen machten deutlich, dass Terroristen nicht „willkürlich“ gemordet haben, wie von US-Präsident Barack Obama behauptet. Natürlich stimmt Josef Schusters Argument, dass auch in Israel Juden nicht sicher seien. 2014 fielen in Israel insgesamt 13 Juden Terroranschlägen zum Opfer. Doch wenn man die jüdischen Toten in Europa hochrechnet, dann sind– gemessen am Bevölkerungsanteil – weit mehr Juden in Europa umgekommen als in Israel. Es macht zudem einen Unterschied, ob man sich in Europa verkleiden und verstecken muss, um als Jude nicht aufzufallen oder in Israel frei die eigene Identität leben zu können. In Israel können Juden sich als Gemeinschaft verteidigen. In Europa stehen die Juden mal wieder vor der Frage von Leben oder Tod. Anders als in Israel sind sie dem guten Willen der Behörden ausgeliefert, sie vor weiteren vorhersehbaren antisemitischen Attacken zu schützen.

Wirtschaft

Die Million hochgebildeter russischer Einwanderer nach Israel hat entscheidend dazu beigetragen, dass Israel zum Welt-Spitzenreiter in Hightech und Startups geworden ist. Wie die Financial Post analysiert, stellen die Juden zwar nur einen Bruchteil der Bevölkerung Europas dar. Doch sind sie überproportional als Experten in der Wirtschaft, in den Künsten und in der Wissenschaft vertreten. Weder wollen die Franzosen auf ihre Chagalls noch die Briten auf ihre Marks (von Marks and Spencer) verzichten. Die Financial Post hat errechnet, dass Juden weniger als 1 Prozent der Bevölkerung Frankreichs ausmachen, aber 8 Prozent der Milliardäre stellen. Im UK sind es weniger als 0,5 Prozent aber 14 Prozent der Milliardäre. Während die Europäer also verständlicherweise auf diese Bürger nicht verzichten wollen, hat Israel ein natürliches Interesse an ihnen.

Angela Merkel wird zitiert mit: „Wir sind froh und dankbar, dass es wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt.“ Doch wäre Deutschland bereit gewesen – als es noch in Trümmern lag – rund 800.000 Juden aus der arabischen Welt aufzunehmen? Warum hat Deutschland seine Tore nicht für Juden aus Polen und Rumänien geöffnet, als es dort in den fünfziger Jahren zu antisemitischen Ausschreitungen kam? Wäre die Bundeswehr in den Sudan eingerückt, um dort fliehende äthiopische Juden zu retten? Auch heute noch sind Juden in akuter Lebensgefahr, wie etwa im Jemen.

Es wird immer wieder darüber spekuliert, ob die Nazis ihren Holocaust hätten durchführen können, wenn es auch nur einen Flecken auf der Erde gegeben hätten, in den die bedrängten und verfolgten Juden hätten fliehen können.

Deutschland hat aus Eigeninteresse zugestimmt, einem „Kontingent“ russischer Juden die Einwanderung zu erlauben, um die jüdischen Gemeinden zu stärken. Aber eine Million zog nach Israel, obgleich viele gewiss die Fleischtöpfe Deutschlands vorgezogen hätten. Auch wenn Merkel heute mit ihren Juden „froh und dankbar“ ist, darf man die Frage stellen, was mit den nach Israel eingewanderten Menschen hätte geschehen sollen.

Und selbst innerhalb Europas darf man vielleicht fragen, ob die Schweiz bereit wäre, heute 600.000 französische Juden aufzunehmen, wenn die sich in ihrer Heimat nicht mehr sicher fühlen?

Der Zionismus, die Nationalbewegung der Juden, Ende des 19. Jahrhunderts infolge von Pogromen ins Leben gerufen, hat sich zum Ziel gesetzt, für Juden aus aller Welt eine offene und sichere Zufluchtsstätte zu schaffen. Aufgrund dieser Idee ist der Staat Israel entstanden. Vor allem europäische Juden, die diese Ideologie abgelehnt haben, zahlten dafür in der Schoah mit ihrem Leben. Die Frage, ob Europa anders als damals für die Sicherheit seiner Juden wirklich einstehen kann und will, steht im Zentrum der heutigen Diskussion zwischen dem Aufruf Netanjahus und jenen, die ihn zurückweisen. Es ist eine Frage, die keiner beantworten kann.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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2 Kommentare

  1. es ist eine schande das juden,
    die als solche erkennbar sind,
    in europa nicht unbehelligt
    leben können.

    jüdische kinder verbinden
    judentum mit polizeischutz,
    panzerglas, stacheldraht …
    jude ist immer mehr ein
    schimpfwort auf schulhöfen,
    mobbing nicht ungewönlich.

    es ist kein wunder das
    juden frankreich verlassen,
    wer will schon versteckt
    leben?

    die meisten juden europas
    haben, wenn sie es sich
    leisten können ein stück
    HL Land gekauft, eine
    kleine wohnung.

    israel ist ein flüchtlingslager
    und fast jeder einwanderer
    nach israel flüchtling,
    was natürlich die
    UN oder EU
    nicht kümmert, es sind ja nur juden und die sind illegal.

  2. Lieber Ulrich

    Es ist alles vollkommen richtig, was du schreibst, Danke dafür!

    Die Argumente und Fakten liegen alle bereit, nur kennen sie die Wenigsten.

    Richtig ist, dass Israel die Heimat aller Juden weltweit ist und bleibt (weniger schön in diesem Zusammenhang ist Israels Desinteresse oder sogar Ablehnung gegenüber den wenigen verbliebenen Falaschmura).

    Richtig ist aber auch, dass alle Juden das Recht haben sollten (theoretisch und praktisch), dort zu leben, wo sie leben wollen.

    Israel ist und soll eine Option bleiben für alle Juden; ein Angebot, und man muss sehr darauf achten, dass dieses Angebot und die Form und Art und Weise, wie man dieses Angebot macht, auf dieses Angebot hinweist, nicht als alarmistisch empfunden wird. Und da sind Netanjahu und leider jetzt auch Hadas-Handelsman in Deutschland einen Tick zu weit über das Ziel hinausgeschossen.

    Die Kommentare von Schuster wie damals die Kommentare von Graumann und Kramer gegen die "Einmischung" von Seiten des israelischen Oberrabbinats in Sachen Beschneidungsdebatte (die in Wirklichkeit eine Ventilfunktion für antisemitische Dreckschleuderer und Vollidioten erfüllte und am 12.12.12 zu einem vorübergehend tröstlichen Abschluss kam), waren nicht hilfreich und beleidigend. Dieses mit-dem-Fuss-Aufstampfen kann leider nicht darüber hinwegtäuschen, dass Israel auch und gerade für Juden in Deutschland eine Option bleibt und bleiben soll. Diese Profilierungssucht auf Kosten Israels ist beschämend und ein Verrat am eigenen Judentum.

    Beste Grüsse, Michael Kühntopf

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