Das Problem mit „jüdischstämmigen“ Menschen

0
Gregor Gysi, Foto TRIALON/Kläber
Gregor Gysi, Foto TRIALON/Kläber
Lesezeit: 5 Minuten

Die Vergangenheit ist in Deutschland glücklicherweise vollständig aufgearbeitet. Weit und breit gibt es keinen einzigen Antisemiten mehr. Aber der berühmte Ariernachweis macht bis heute seine Runde. Das wurde spätestens bei dem filmisch dokumentierten Toilettengang des „jüdischstämmigen“ Gregor Gysi deutlich.

Bei Wikipedia sind die jüdischen Vorfahren Gysis unauffindbar. An einer anderen Stelle heisst es: „Gregor Florian Gysi entstammt einer jüdischen Familie, ist selbst aber nicht gläubig“.

Wieso „aber“? Ist etwa jeder Jude gläubig? Oder erscheint hier das „aber“, weil Juden auch Mitbürger „mosaischen Glaubens“ genannt werden? Also müssen sie doch glauben. Dabei sollte sich herumgesprochen haben, dass es viele Juden gibt, die mit der Religion absolut nichts am Hut haben. Es gibt zudem Juden jeder Glaubensrichtung: Kommunisten, Atheisten, Faschisten und Antifaschisten, zum Christentum oder Islam konvertierte, Zionisten und Antizionisten.

Und wenn er tatsächlich einer „jüdischen Familie“ entstammt, fragt sich, wie man das bemerken konnte. Haben seine Eltern das Judentum praktiziert? Mit seinem Vater, einem „in Russland lebenden Hütteningenieur“ unbekannter Rassenzugehörigkeit, der lediglich einen jüdischen Grossvater hatte und seiner deutsch-russisch adeligen Mutter, einer Tochter von Tatjana von Schwanebach, klingt das eher unwahrscheinlich. Sein „jüdischstämmiger“ Vater, der Stasi IM Kurt Gysi, war übrigens zeitweilig Kirchenbeauftragter der DDR.

Und ausgerechnet die Deutschen sollten wissen, dass Weltanschauung oder religiöser Glaube nichts mit dem „Juden“ zu tun hat, sondern vielmehr der Ariernachweis. Und da ist gemäss der Nürnberger Gesetzen von 1935 genau definiert, wie viele jüdische Vorfahren man haben muss, um das Recht zu erhalten, sich nach Auschwitz deportieren zu lassen.

Vor genau einem Jahr, ebenso aus Anlass des 9. November 2013, erlebte Gysi schon einmal einen antisemitischen „Shitstorm“ mit entsprechenden Anfeindungen aus dem Internet. Gegenüber Focus hat er sich bei der Gelegenheit zu seiner „jüdischen“ Vergangenheit geäussert. Gysi habe eine jüdische Grossmutter väterlicherseits und einen jüdischen Urgrossvater mütterlicherseits. „Nach den Nürnberger Rassegesetzen bin ich nur zu 37,5 Prozent jüdisch, nach den jüdischen Gesetzen bin ich überhaupt kein Jude, weil ich keine jüdische Mutter habe.“ Er selbst sei überhaupt kein religiöser Mensch.
Seine Grossmutter habe ihm immer die Welt in Form von Juden und Nichtjuden erklärt. „Das ging mir auf die Nerven“, erinnert sich Gysi. „Eines Tages sagte ich: Es genügt mir, wenn du sagst: Das ist ein guter oder ein schlechter Komponist – und nicht, ob er jüdisch ist oder nicht.“ Darauf habe sie geantwortet: „Diese Frage hat über mein Leben entschieden.“ Er sei damals zwölf Jahre alt gewesen und der Satz habe ihn sehr beeindruckt. Das Gespräch muss also 1960 stattgefunden haben.

Wer ihn als „jüdischstämmig“ beschreibt, wendet die Nürnberger Gesetze an und beruft sich auf die Methode, Menschen in Achtel-, Viertel- oder Halbjuden einzuteilen.

Zunächst einmal sei festgestellt, dass ein „Halbjude“ zugleich auch ein „Halbchrist“ oder „Halbmoslem“ ist, falls die Religionszugehörigkeit das relevante Kriterium ist. Sollte die „Rasse“ ausschlaggebend sein, wäre Gysi also zugleich ein „Dreiviertel-Arier“, ein „Halbrusse“ und ein „Viertel-Adeliger“. Zudem ist er ein Deutscher. Und da schaut „man“ doch nicht auf den „Migrationshintergrund“, falls das auf Gysi zutrifft.

Die Einteilung des Menschen in Rassen ist eine ziemlich neue Erfindung. Sie stammte aus der Zeit der Aufklärung, als der alte Vorwürfe gegen die Juden, „Gottesmörder“ zu sein, nicht mehr zog. Um jedoch weiterhin die Juden hervorzuheben, reichte die Hautfarbe als Merkmal nicht aus: gelb, braun, schwarz oder weiss. Und weil die Schnauze auch keine erkennbaren Unterschiede ergab, wie bei Köterrassen, besann man sich auf die Linguistik mit ihren Sprachfamilien. Da stellt sich heraus, dass die Finnen mit den Ungarn verwandt sind. Die Juden hat man in einen Topf geworfen, weil Hebräisch ihre Sakralsprache ist. Also wurden sie zu „Semiten“ ernannt, weil das Hebräische zur Familie der semitischen Sprachen zählt, wie das Arabische.

Das Hebräische wurde erst vor etwa hundert Jahren wiederbelebt. Bis dahin sprachen die Juden die jeweilige Landessprache, also Arabisch, Persisch, Französisch, Deutsch, Chinesisch, Türkisch oder Dialekte wie Ladino und Jiddisch.

Wie schwachsinnig diese ganze Theorie ist, aus Sprachen Menschenrassen zu basteln, zeigt sich am Beispiel zahlloser Völker, die heute als „semitisch“ bezeichnet werden, darunter die Ägypter, die Berber und andere. Die haben ab dem 7. Jahrhundert offenbar eine Genwäsche durchgemacht und ihre Rasse ausgetauscht, als sie infolge der islamischen Eroberungen die arabische Sprache angenommen haben. Zuvor hatten die Ägypter Griechisch und andere nicht-semitische Sprachen gesprochen.

Wenn die Sakralsprache der Juden ausschlaggebend für deren Rassenbezeichnung ist, dürften nicht nur Portugiesen, Spanier, Italiener und Rumänen zur Untergruppe der Latino-Völker zugeschlagen werden. Dann müssten alle Katholiken in der Welt, Chinesen, Kongolesen, Araber und Deutsche dazu gerechnet werden, da doch einst das Lateinische die Sakralsprache der Katholiken war.

Um es kurz zu machen: die Einteilung der Menschen gemäss Sprachfamilien ist völlig absurd. Und wenn sich die Menschen gemäss anderen Kriterien als „Völker“ betrachten, wie etwa die Bayern, die Sachsen, die Sudeten, die Juden, die Schweizer oder gar die Amerikaner und Australier, käme niemand auf die Idee, von einem bayernstämmigen Amerikaner zu reden, nur weil da irgendwo mal ein Bayer im Stammbaum erscheint.

Wäre es nicht viel passender, den ex-Kommunisten und heutigen Parteichef der „Linken“ als „Adel-stämmig“ zu bezeichnen? Das würde wenigstens Sinn machen angesichts der von ihm vertretenen politischen Linie.

Und nun fragt sich, wie „stämmig“ eigentlich die anderen Teilnehmer bei dem Schauspiel um Gysi sind. Tatsache ist, dass zwei Volljuden ihn bis aufs Klo verfolgt haben. Bei den wenigsten Abgeordneten steht dabei, ob oder wie sie getauft sind, evangelisch oder katholisch. Wenn aber der „Glaube“ so relevant ist, wie im Falle von Gysi, sollten sich alle beeilen, dieses Element in ihren Biografien zu vervollständigen. Denn wie sonst kann man bei ihnen die ach so relevante „Stämmigkeit“ ermitteln.