Der Terror in Dir: Die Geschichte einer Überlebenden

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Ich kniete, geknebelt und gefesselt, und wartete darauf, enthauptet zu werden. Ich erinnere mich an den Geruch der wohlduftenden Pinien, der sich mit dem Gallengestank unter dem Tuch um meinen Mund vermischte. Ich erinnere mich an das Zwitschern der Vögel und das angsterfüllte Wimmern meiner Freundin. Ich erinnere mich an ein helles Licht, eine in der Sonne schimmernde Machete. Die Schönheit und Grausamkeit, Heiligkeit und Brutalität sind der unfassbare Hintergrund dieser Moment, einer Ewigkeit, der sich auch nach viel vergangener Zeit nicht so wie andere Erinnerungen absorbieren lässt,

Ich hatte nie daran gedacht, brutal ermordet zu werden. Wer würde das? Gerade mal 46 Jahre alt hatte ich mir selbst über den Tod nur selten Gedanken gemacht. Es war eine halbe Stunde Wahnsinn – so lähmend, dass selbst die kurzen Momente der Vorbereitung auf meinen Tod von der Angst vor dem Wesen meiner unmittelbar bevorstehenden Exekution erstickt wurden. Ich erinnere mich, wie ich zum Himmel schaute und die Sonne anflehte, nicht unterzugehen – um Sekunden später das Undenkbare mitanzusehen: Ein Mensch wurde vor meinen eigenen Augen zu Tode gehackt.

Ich hatte keine Angst mehr vor dem Tod, sondern davor aufzugeben. Ich wollte, dass die Polizei meine Leiche findet, damit die Söhne des Bösen erwischt werden. Ich wollte mein eigenes Grab wählen, ich wollte diese letzte Entscheidungsfreiheit. Irgendwie, gefesselt und geknebelt, barfuss und verblutend, gelang es mir aufzustehen und über eineinhalb Kilometer durch den Wald zu gehen. Ich erlitt dreizehn Machete-Wunden, von denen Lungen und Zwerchfell betroffen waren, sechs komplizierte Knochenbrüche, 30 weitere Knochenbrüche, eine dislozierte Schulter, ein zerschmettertes Brustbein und ein gebrochenes Schulterblatt. Ich fand kein komfortables Grab. Stattdessen fand ich überraschenderweise einige Familien, die mein Leben retteten.

Kristine Luken wurde ihrem Leben und der letzte Entscheidungsfreiheit beraubt, die mir gegeben wurde. Sie wurde um ein natürliches Ableben im Kreis ihrer liebevollen Familie gebracht. Ihr Tod beraubte sie der Würde eines schmerzfreien Sterbens, diese grundsätzliche Gnade, die selbst den schlimmsten verurteilten Mördern zuteilwird. Das Fleischermesser schnitt die künftigen Nachfahren einer unschuldigen Frau weg. Es riss das Herz ihrer Familie auseinander und meine Unschuld in Stücke. Seine Schläge zerstörten meine Knochen, zerschnitten mein Fleisch, dezimierten meine Seele und zerstörten die Person, die ich einst war.

Ein Jahr nach dem Anschlag wurde ich als Teil einer kleinen israelischen Delegation eingeladen, an einer Konferenz in Europa zu sprechen, die Terroropfern eine Plattform für ihre Geschichten zu ermöglichen suchte. Ich sass neben einem indonesischen Muslim, der seit den Bombenanschlägen in Bali „im Geschäft“ war. Er war bloss einer von Tausenden von Muslimen, die durch islamistische Fanatiker entstellt oder getötet worden waren. Einst war er ein Mann gewesen. Jetzt war sein Kopf bloss noch eine unförmige Masse, die sich in einem seltsamen Winkel von seinem Genick erstreckte. Einige Haarbüschel sprossen unregelmässig hinter seinen Ohren. Die hellen Hautverpflanzungen in seinem dunklen Gesicht machten ihn zu einem makabren menschlichen Kaleidoskop. Ich war richtiggehend dankbar, als ich meinen physischen Zustand dem seinen gegenüberstellte. Ich habe keine körperlichen Gebrechen oder äusserliche Entstellungen, die als konstante Quelle von Faszination und Irritation für mein Umfeld dienen würden. Nichts an meiner Erscheinung lässt darauf schliessen, dass ich ein Terroropfer bin.

Wie unter Terroropfern üblich, verzichteten wir auf den Smalltalk – wir haben die Fähigkeit verloren, uns um das Banale zu kümmern. Der indonesische Herr realisierte intuitiv, dass es für mich eine Last sein musste, über unsichtbare physische Wunden zu verfügen, die alle Indizien auf den psychologischen Terror verbergen, den ich Tag und Nacht durchlebe. Er erkannte, dass mir deshalb nicht immer diese extra Dosis Geduld und Verständnis zuteilwurde, die ich manchmal verzweifelt brauche. Ich spürte seinen verborgenen Schmerz ebenfalls und fragte ihn, ob andere Menschen je eine Beziehung ausserhalb seiner Opferrolle zu ihm hätten. Ich wunderte mich, ob seine Konversationen je um etwas anderes als Terrorismus drehten. Obwohl sich unsere Erfahrungen unterschieden und ein Vergleich keinen Sinn machte, waren wir verwandt, unzertrennliche Geschwister des zufälligen politischen Mordes. Unabhängig von unseren ethnischen und kulturellen Hintergründen waren wir beide Opfer von willkürlichen und sinnlosen Terrorakten. Wie ich war dieser unschuldige Mann von den Wellen des Grauens herumgeschleudert worden und gestrandet an einem feindseligen Ufer. Wie ich hatte er keine Möglichkeit, zu seinem alten Leben zurückzukehren. Was immer wir einmal waren, ist verschwunden mitsamt unseren früheren trivialen Belangen.

Ich werde nicht und kann nicht bestreiten, dass ich das Opfer eines mörderischen Terroranschlags war. Ich leide an chronischen Schmerzen und werde verfolgt von den Bildern meiner Freundin, wie sie sich windete und schrie, als ein Terrorist sie ermordete. Das Leben hat es nicht gut mit mir gemeint, zugleich wäre es aber falsch anzunehmen, dass mein Leiden entweder vergleichbar oder einzigartig ist. Die Geschichtstafeln sind voll von Aufzeichnungen über Barbarei gegen Generationen und Kulturen. Ganze Völkergruppen sind grausam behandelt worden: die Kurden, die Serben, die Aborigines, die Indianer, die Armenier, die Juden, um nur einige zu nennen. Und die Geschichte hat es auch mit den Palästinensern nicht gut gemeint.

Die politische Frustration der Palästinenser ist so legitim wie brutal. Es stimmt, dass die israelische Regierung oft ihren Kopf in den Sand gesteckt hat. Doch noch immer hat kein arabischer Staat einer Einbürgerung jener arabischen Flüchtlinge zugestimmt, die während oder nach dem Krieg von 1948 in arabische Länder geflohen waren. Noch immer leben viele von ihnen im Elend, weil ihnen ihre jeweiligen muslimischen Regierungen den Erwerb von Land verweigern. Noch immer wird das Scheitern von Hilfsorganisationen kaum thematisiert. Noch immer verweigert die Hamas – jetzt ein Teil der Palästinensischen Autonomiebehörde – jegliche Aussicht auf Frieden und die Anerkennung von Israels Existenzrecht. Ohne Ausnahme hat die palästinensische Führung jedes Angebot auf dem Verhandlungstisch sabotiert. Doch noch immer macht die Welt ungerechterweise Israel dafür verantwortlich.

Die Autonomiebehörde hat eine Identität des Leidens übernommen, um die Welt auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Hinter diesem vordergründig harmlosen Unglücksnarrativ versteckt sich eine subtile und unterschätzte Form des politischen Terrorismus, die durch eine verlogene Propagandakampagne gestärkt wird. Diese ist so effektiv, dass Lüge nun Wahrheit ist, Fakten nun Fiktion, und die Palästinenser vergessen haben, wer sie sind. Indem sie die Vergangenheit umschreiben, versuchen sie nicht bloss zwecklose Dauersympathie zu erlangen, sondern schüren den Zorn jener, die den ältesten Hass der Welt in sich tragen.

Ich möchte, dass meine grauenhafte Erfahrung meinen palästinensischen Freunden hilft, sich von den Lügen zu befreien, die ihnen erzählt werden und die sie sich selbst erzählten. Ich möchte sie aus dem dunkeln Dickicht des Ressentiments führen und ins Licht begleiten. Ich möchte, dass sie das Leben – dieses unaufhaltbare und rasende Bedürfnis, niemals aufzugeben – wählen, weil es eine wirksamere Droge ist als jede verräterische Lüge über Elend und Opferrolle, die ihre Seelen zu vergiften sucht. Ich möchte, dass sie eine bessere Zukunft für ihre Kinder schaffen. Ich möchte, dass sie gesündere und bedeutungsvollere Leben führen.

Deshalb teile ich die Geschichte meines eigenen Todesmarsches mit ihnen, damit sie staunen können über die verborgene Stärke und den unwiderstehlichen Antrieb in jedem Menschen zu leben und nicht zu sterben. Ich teile dies in der Hoffnung, dass die anhaltenden Herausforderungen in meinem Leben ihnen durch ihre eigenen helfen. Ich erinnere sie daran, dass Agonie und Dankbarkeit Hand in Hand gehen. Ich erzähle ihnen, dass ich aufgrund des Erlebten traumatisiert bin und dennoch ergriffen von der Freude darüber, am Leben zu sein. Ich schaue zum Licht, das den Schatten im Tal des Todes formt und erzähle ihnen, dass ich einst gefesselt war, nun aber frei bin. Ich bin frei darin, richtig von falsch zu unterscheiden, zu schlagen oder zu umarmen. Meine Füsse sind frei, mich schmerzfrei hin- oder wegzuführen.

Es ist mein Jihad, mein Kampf, mein individueller und permanenter mentaler Krieg, denn ich gewinne, indem ich mir sage, dass nicht jeder Palästinenser für den Mord an Kristine verantwortlich ist. Es waren bloss zwei Übeltäter, die einer dreizehnköpfigen Terrorzelle angehörten. Es waren bloss die arabischen Staaten, Banken und muslimischen Wohltätigkeitsorganisationen, die Terrorismus durch Geldwäsche finanzieren. Es war bloss die Palästinensische Autonomiebehörde, die kürzlich die Fatah und die Hamas vereinigte, eine staatlich geförderte Terrorkoalition. Das sind die Menschen, die für den Mord von Kristine Luken verantwortlich sind.

Es gibt Tausende von Palästinenser, die ihre jetzige Situation nicht verdient haben und die nichts dafür können. Niemand bei moralischem Verstand ist glücklich mit dem politischen Status Quo. Diese unschuldigen Palästinenser sind die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und ich hoffe, dass sie durch einen moralischen Jihad, einen gewaltlosen Kampf, den heimtückischen Hass besiegen können, der ihre Gesellschaft und ihre Seelen okkupiert.

Ich weigere mich, von Hass verzehrt und durch das Böse definiert zu werden. Stattdessen bin ich dankbar für das, was ich habe. Mit meiner ganzen Entschlossenheit strenge ich mich an, den Gesang der Vögel zu hören anstelle des Wimmerns. Durch den Geruch des Erbrochenen atme ich die duftenden Pinien. Ich drehe meinen Kopf weg vom schimmernden Messer und schaue stattdessen in den Himmel. Mit überschwänglicher und unendlicher Dankbarkeit, die nur kennt, wer dem Tod entkam, bezeuge ich täglich das hebräische Gebet, ein Dekret der Dankbarkeit, dass Millionen vor mir störrisch geflüstert haben während den Jahrtausenden des jüdischen Leidens: „Ich danke Dir, König, Lebender und immer Bestehender, dass Du mir in Barmherzigkeit meine Seele wiedergegeben hast, groß ist Deine Treue.“

Es ist ein langer, einsamer, furchterregender und dennoch beglückender Weg, heraus dem Wald des Hasses.

Kay Wilson ist eine in England geborene israelische Reiseführerin, Jazzmusikerin und Cartoonistin. Sie ist die Überlebende eines brutalen Terroranschlags während einer Tour im Dezember 2010. Seit dem Anschlag ist sie eine gefragte Motivationssprecherin. Sie referiert über Themen wie Menschenrechte und Gerechtigkeit für Terroropfer. Sie ist Referentin für StandWithUS, One Family Together und Magen David Adom und in der Israel Speaker’s Agency registriert.  

Gekürzte Fassung des Originals: The Terror Within: A Survivor’s Tale by Kay Wilson © The Tower Magazine, Issue 16, July 2014