Die Rückkehr des christlichen Antisemitismus

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Supersessionismus. Es ist stadtbekannt, dass viele Kirchen innerhalb der protestantischen Welt dem Staat Israel gegenüber zutiefst feindlich eingestellt sind und Palästinenser zu Opfern israelischer Unterdrückung machen. Weniger bekannt hingegen ist, dass dieser Animus zunehmend nicht durch Politik, sondern durch Theologie genährt wird. Das ist umso bemerkenswerter, als dass Millionen evangelikaler Christen zu den leidenschaftlichsten Unterstützern von Israel in Amerika und anderenorts gehören.

Gerne vergisst die christliche Welt, dass die Geschichte ihrer Beziehung mit den Juden eine schreckliche ist. Im Europa des Mittelalters hetzte die katholische Kirche die Bevölkerung mittels der Ritualmordlegende gegen Juden auf, konvertierte sie unter vorgehaltenem Messer und brachte sie zuhauf um.

Antrieb fanden diese Pogrome in einer besonderen Form der Dämonologie genannt Ersetzungstheologie, auch bekannt als Supersessionismus. Diese Idee reicht zurück bis zum frühen Kirchenschriftsteller Origenes (182 – 254 n.Chr) und vertritt, dass weil Juden Jesus die Heiligkeit verweigert hätten, alle Versprechen, die Gott ihnen gemacht hat, nun den Christen gehörten.

Wenig überraschend verschwand nach Auschwitz diese bösartige Theologie von der Bildfläche. Allerdings ist sie nur in den Untergrund abgetaucht. Einstweilen ist sie mit einem frischen geopolitischen Anschub zurückgekehrt, ausgestattet mit einer „palästinensischen Befreiungstheologie“, eine Variante der Befreiungstheologie der 1960er Jahre, die den Schluss nahelegt, dass eine sozialistische Revolution die sachgemässe Erfüllung der christlichen Pflicht gegenüber den Armen sei. In diesem Durchlauf wird Jesus zu einem Palästinenser, der von Juden verfolgt wird, während Jesus‘ Nachfahren – wer wusste, dass er welche hatte? –  zu den Palästinensern von heute werden, gekreuzigt just in dem Land, das ihnen verheissen wurde. Ihre Befreiung würde selbstverständlich die Auflösung des jüdischen Staates erforderlich machen.

Diese bösartigen Konzepte sind in einer dreisten Strategie verwurzelt, übernommen von der PA, um Israels Existenzrecht zu leugnen, indem man die jüdische Geschichte seinem eigenen Nutzen anpasst. Das schliesst mit ein, Jesus als Jude aus Judäa abzulehnen und ihn zu einem Palästinenser zu machen, der den Islam lehrt.

Das ist eindeutig ein bisschen zu viel verlangt: Rom hat den Namen von Judäa erst 136 n.Chr. in Palästina geändert und der Islam erschien erst im 7. Jahrhundert n.Chr. auf der Bildfläche. Nichtsdestotrotz behauptet die palästinensische Führung einschliesslich Präsident Mahmud Abbas wiederholt, dass Jesus ein Palästinenser gewesen sei. Und umgekehrt besteht das jüdische Volk heute allem Anschein überhaupt nicht mehr aus Juden, sondern stammen die Juden von heute von „einem osteuropäischen Stamm [die Khazaren] ab, die im Mittelalter zum Judentum konvertiert sind“; so gemäss Mitri Raheb, einem lutherischem Pfarrer in Bethlehem. Folglich sind die wahren Erben von Israel nicht die Juden, sondern die Araber.

Solche fantastischen Behauptungen entstehen durch eine Auslegung der Bibel als ein palästinensisches supersessionistisches Manifest. Der Schmelztiegel dieser Behauptungen ist das Sabeel Ecumenical Liberation Theology Center in Ostjerusalem. Es ist eine wichtige Quelle, denn es wird genutzt vom anglikanischem Klerus, Hilfsorganisationen und Firmen, die Pilger ins Heilige Land bringen. Dieses Zentrum produziert systematisch Lügen und Diffamierungen über Israel, die theologisch begründet werden und die alte Anschuldigung des Gottesmordes auf Israel ummünzen.

Ersatztheologie. 2009 veröffentlichte eine Gruppe christlicher Palästinenser das Kairos Dokument – ein Manifest, das Israel mit dem Apartheidsregime Südafrikas vergleicht und vorgibt, dass die jüdische Souveränität ein Affront gegen Gottes Plan für die Menschheit sei. Diesmal basiert die Argumentation auf dem säkularen Menschenrechtsbegriff.

Mit zunehmendem Masse drängen diese Behauptungen in Kirchen im Westen vor, deren Feindseligkeit Israel gegenüber seit langem durch ihre Beziehungen zu Kirchen in arabischen Ländern angefeuert wurde. Diese Feindseligkeit wurde stark von dem 1948 gegründeten Weltkirchenrat (Ökumenischer Rat der Kirchen ÖRK) beeinflusst. Der ÖRK hat insbesondere auf progressive Kirchen im Westen Einfluss, die sich der Fürsprache für die Armen und Enteigneten dieser Welt verschreiben und somit dessen Narrativ über Israel aufgenommen haben.

Gemäss Domherr Andrew White, selbst ein christlicher Zionist und früherer Sondergesandter des Erzbischofs von Canterbury im Nahen Osten, hat sich eine palästinensisch beeinflusste Ersatztheologie wie ein Lauffeuer innerhalb der Kirche Englands verbreitet. Der biblische Gott wird als Gott der Unterdrückten gesehen; die Palästinenser sind die Unterdrückten; und die Kirche muss daher für Gerechtigkeit gegen die Unterdrücker, die Juden, kämpfen, sodass die Palästinenser in ihr gelobtes Land einziehen können. Diese Analyse, so White, hat ganze Glaubensgemeinschaften beeinflusst, die Mehrheit der Anbieter christlicher Pilgerreisen, und viele der wichtigen Missionen und Hilfsorganisationen.

Ein Beispiel war die Hauptweihnachtsdekoration in diesem Jahr an der St. James Kirche im Herzen von London: eine 7 Meter hohe und 30 Meter lange Mauer. Das, so informierte die Kirche die Öffentlichkeit, sei ein Replikat der israelischen Mauer, die Bethlehem umgebe. Aber es gibt keine Mauer um Bethlehem herum. Der israelische Sicherheitswall nimmt nur die Form einer Mauer entlang jener Gebiete an, in denen die Gefahr der Infiltration Jerusalems durch Terroristen sehr hoch ist. Doch das spielt für die St. James Kirche keine Rolle, deren Mauer das Herzstück einer zweiwöchigen Darstellung der israelischen Unterdrückung der Palästinenser war, das sie Bethlehem unwrapped [Bethlehem ausgepackt] nannten. Progressive Kirchen haben Bethlehem, eine Kultstätte des Christentums, zu einem Symbol palästinensischen Leidens durch Israel gemacht.

Christliche Palästinenser. Aus zwei Gründen haben progressive protestantische Kirchen einen antiisraelischen Narrativ angenommen. Erstens aufgrund des Verlustes ihrer Basis. Einst standen Kirchen an vorderster Front bei Sozialreformen in Amerika und Grossbritannien – heute sehen sie ihren Einfluss in ihren Kirchengemeinden schwinden. Der Einsatz für die „armen und unterdrückten“ Palästinenser scheint eine bedeutende Rolle im nationalen Diskurs anzubieten.

Zweitens drängt der Glaube unter progressivem Klerus in den Hintergrund. Mit zunehmendem Masse unwillig oder einfach nicht fähig, die wörtliche Wahrheit der Bibel zu predigen, haben sie sich selbst zu Kämpfern für die Armen und Unterdrückten gemacht. Mit der Folge, dass ihre Orthodoxie nun auch aus der vom ÖRK eingenommenen soziologische und theologische Haltung besteht. Dieser Kontext hat es Palästinensern und Christen aus dem Westen ermöglicht, das Politische und Theologische zu fusionieren und die mörderische Verleumdung des Gottesmordes gegen die Juden wiederzubeleben, nebst dem auferstandenen Jesus als dem ultimativen leidenden Palästinenser.

Aktuell gibt es eine noch alarmierendere Entwicklung. Die neusten Christen, die dieser Ersatztheologie und Delegitimierung Israel unterliegen, sind die Evangelikalen, das Fundament des christlichen Zionismus. Das ist gerade deshalb umso niederschmetternder, weil diese Christen die Bibel äusserst ernst nehmen. In der Folge sind sie nicht nur einfach Anti-Zionisten, sondern von der Religion inspirierte, antijüdische Supersessionisten.

Im März 2014 nahmen etwa 600 evangelikale Christen an einem viertägigen Event in Bethlehem namens Christ at the Checkpoint (CatC) teil. Diese Veranstaltung will, so ihr Manifest, „die prophetische Rolle beim Erlangen von Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung in Palästina und Israel zurückgewinnen.“ Die Botschaft war eine Mischung aus theologisch begründetem christlichem Judenhass, palästinensische Viktimologie und eine massive Neuschreibung der Geschichte. Ein Zeuge dieser Veranstaltung, Brian Schrauger, schrieb: „Abgesehen von den ausdrücklichen Gewaltaufrufen wurde jeder Teil, jeder rhetorische Aspekt durch die islamische Fatah und Hamas bravurös, horrend ‚christianisiert‘.“

Die „brutale israelische Besatzung“ und „Unterdrückung“ der Palästinenser ist inszeniert als eine lebendige Nachstellung der Passion Christi in den Händen von niemand Geringerem als den Vorläufern dieser israelischen Unterdrückern, den Juden. Die Konferenzteilnehmer kehren dann in ihre Heimat zurück und verbreiten das Wort unter den evangelikalen Kirchen. Einige bestürzte Beobachter haben das als die „evangelikale Intifada“ tituliert.

Für viele Christen ist diese besondere Dämonisierung Israels unwiderstehlich. Durch das Leiden der Palästinenser können sie die Geschichte Jesus‘ in der modernen Welt leben. Und natürlich ist Geografie hier entscheidend. Jene, die sich für die palästinensische Befreiungstheologie einsetzen, spielen mit der Tatsache, dass das Heilige Land der wichtigste Ort auf der Welt für Christen ist.

Laut einigen Teilnehmern wurde an der diesjährigen CatC-Konferenz die Behauptungen verlautbart, dass die „erste Nakba“ 587 v. Chr. Stattfand, als „Palästinenser“ „nach Babylonien ins Exil geschickt wurden“, und die „erste Intifada“ war 70 n. Chr. als Titus den Tempel zerstörte. Aber natürlich waren es die Juden, die in diesen Jahren ins Exil verbannt worden waren.

Revisionistische Islamisierung der Anglikanischen Kirche. Hand in Hand mit dem christlichen Palästinensismus ging die stetige Islamisierung der Anglikanischen Kirche einher. Zusehens unter Nichtbeachtung ihrer jüdischen Wurzeln hat die Kirche stattdessen die Hand dem Islam entgegengestreckt. Eine spezielle Initiative war das vom Erzbischof von Canterbury 2002 einberufene christlich-muslimische Seminar „Brücken bauen“. Im Verlauf des Auftakttreffens wurde die „gemeinsame Reise von Christen und Muslimen“ betont und in Vorträgen deuteten einigen muslimische und christliche Wissenschaftler Gleichheit, sogar Einheit zwischen Islam und Christentum an.

Die Kirche von England sieht über einen widerlichen historischen Revisionismus hinweg. Muslime nehmen nicht nur für sich in Anspruch, das Land Israel vor den Juden bewohnt zu haben, nein, auch dass der Islam irgendwie das wahre Judentum war, bevor die Juden ihre eigene Religion zerstört und verdorben hatten. Der Koran besagt, dass der Islam vor dem Judentum und dem Christentum kam, und der Glaube Abrahams war, der ein Muslim war. Er lehrt, dass Juden und Christen ihre Schriften verfälscht hätten, so dass Allah eine neue Offenbarung durch Mohammed entsandt habe. Damit wurden Judentum und Christentum aufgehoben und die Menschen zurück zur wahren Religion des Islam gebracht, die Abraham praktizierte.

Die Existenz Israels als jüdischer Staat ist somit ein Gräuel, weil der Islam lehrt, dass Muslime in der Tat die wahren, authentischen Juden seien.

Christen scheinen dem zusehend zuzustimmen.

Das wirklich schwierige Problem liegt darin, dass Supersessionismus nicht irgendeine Randtheologie, sondern zutiefst im christlichen Denken verankert ist. Die Kirche ist grundlegend dem Glauben verhaftet, dass das Christentum das Judentum ersetzt habe. Doch während 1965 die Katholiken mit der Enzyklika Nostra Aetate offen versuchten, ihrem eigenem antijüdischen Denken entgegenzutreten und sich davon zu distanzieren, hat die protestantische Kirche den Supersessionismus nur leise unter den Teppich gekehrt. Mit dem Versagen, die theologischen Wurzeln der christlich antijüdischen Vorurteile anzugehen, blieb die protestantische Kirche offen für eine opportunistische und revisionistische palästinensische Verwendung der Doktrin und ihrer Verwendung als Waffe gegen den Staat Israel.

Im Aufruhr um die Kampagne zur Delegitmieriung Israels wurde der Rolle der protestantischen Kirche nur dürftige Aufmerksamkeit zuteil. Ein schrecklicher Fehler. Die Rückkehr der Ersatztheologie ist von grösstmöglicher Bedeutung dafür, wie Israel im Westen angesehen wird, dort wo Kirchen weiterhin über einen grossen Einfluss verfügen. Wenn christliche Kleriker, besonders in den USA, aber auch in Europa, beteuern, dass Israel ein rassistischer, unterdrückender, aggressiver Staat sei, wird ihnen Glauben geschenkt.

Während Christen weltweit von Islamisten ermordet werden, lenken einige ihrer Kirchenhäuser ihre Leidenschaft woanders hin. Sie sind damit beschäftigt, Geschichte neuzuschreiben, eine Theologie aus einer üblen politischen Verdrehung heraus zu konstruieren und sich erneut mit den historischen Kräften unermesslicher Dunkelheit aufzustellen.

Gekürzte Fassung des Originalessays: The Return of Christian Anti-Semitism by Melanie Phillips © Commentary Magazine, June 1, 2014.

3 Kommentare

  1. Vielen Dank für die Übersetzung.

    Einiges das genannt wurde, hatte ich such schon früher bemerkt. Man stelle sich beispielsweise die Frage: Wie viele Male die offizielle Kirche für irgendwelche "Nakba"-Ausstellungen wirbt und für wie viele Male sie auf Informationen über die Aufstände und Vertreibungen (Pogrome) gegen Juden hinweist. Da merkt man schon einen deutlichen Unterschied.

    Wenn also relativ uninformierte Kirchengänger sich zum ersten Mal mit dem Nahostkonflikt befassen und eine von der offiziellen Kirche beworbenen "Nakba"-Ausstellungen besuchen, dann werden sie kaum dort oder später irgendwo Mitbekommen, dass die These wonach es um Land gänge zu viele Löcher hat, und deshalb fehlerhaft ist. Dies wird auch durch weitere historische Ereignisse unterstützt, als dass in den 1920er von Völkerbundsstaaten offiziell als "Palästina" bezeichneten Gebiet Jordanien abgetrennt wurde, um dann gleich nochmals über eine weitere Verkleinerung in Betracht zu ziehen etc. Aber auch dies wie ebenfalls die Tatsache, dass auch während und vor dem osmanischen Reich immer eine Anzahl Juden in Jerusalem und anderen Gebieten Israels lebten, wird meines Wissens von der offiziellen Kirche in deren Geschichtsschilderungen unterschlagen.

    Das ganze erinnert mich an mindestens ein halbes Dutzend andere sehr selektive Darstellungen und deutlichen Verdrehungen im Bereich der Geschichte, die mir schon aufgefallen sind. Es gibt ein geradezu ein Muster, das in ähnlicher Form immer wieder auftritt, und ohne dieses gewisse sozialstische Ideologi(en) deutlich mehr Mühe hätten, sich zu verbreiten.

  2. Christliche Theologie als (erste) Quelle von Antisemitismus ist eine sehr legitime Fragestellung! Diese "Theologen" sind weiter am Werk und man muss sie sehr ernst nehmen. Sie beeinflussen die heutigen Christian Zionists, von denen viele eigentlich auch "Superzessionisten" sind. VORSICHT!!!

    Weiter so!

  3. Ich halte mich für einen Antisemitismusexperten http://www.blueprinttheorie.de, habe mich aber mit dem religiösen "Antisemitismus" – in meiner Denkweise "Antijudaismus" – noch nicht intensiv beschäftigt und danke Ihnen für die Veröffentlichung über den Supersessionismus.
    Mit der Hoffnung auf Falsifizierung meiner Antisemitismustheorie verbleibe ich
    mit freundlichem Gruß
    Gerd Weghorn

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