Umstrittenes Jerusalem

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Graffiti in Silwan. Foto U. Sahm
Graffiti in Silwan. Foto U. Sahm
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Keine zweite Stadt der Welt existiert gleichzeitig im Himmel und auf Erden. Und kein anderer Ort ist so umstritten wie das irdische Jerusalem.

Jerusalem ist die „vereinigte, ewige Hauptstadt Israels“, laut UNO-Empfehlung ein „Corpus Separatum“, die Hauptstadt des künftigen Staates Palästina und sollte nach dem Willen des Vatikans „internationalisiert“ werden. Westjerusalem ist eine Art Niemandsland, weil es als Teil Israels nicht anerkannt ist, weshalb alle Botschaften in Tel Aviv sitzen.

Ostjerusalem wird in den Medien oft als „traditionell arabisch, von Israel völkerrechtswidrig besetzt und annektiert“ bezeichnet. Die arabische Tradition währte freilich nur 19 Jahre. Das ist nicht viel bei einer 3000 Jahre alten Stadt. Arabisch war die Stadt nur während der „illegalen und völkerrechtswidrigen“ jordanischen Besatzung zwischen 1949 und 1967. Vorher stand Jerusalem unter der Herrschaft der Briten, der Türken (Osmanen) und allen möglichen Supermächten seit dem Altertum: Babylonier, Griechen, Römer, Kreufahrer.

Der von Israelis gefeierte „Jerusalemtag“, 47 Jahre „Wiedervereinigung“ und Fall der Mauern, die 19 Jahre lang mitten in Jerusalem standen, geben Anlass zum Nachdenken. Denn Jerusalem sorgt nicht nur für politischen Sprengstoff  wegen seines ungeklärten Status, sondern auch für theologische Dispute zwischen Juden, Christen und Moslems.

Entsprechend unterschiedlich fallen die Medienberichte über den Jerusalemtag aus. Tachles betont die Abwanderung von fast 9000 Bewohnern, überwiegend weltliche und nationalreligiöse Juden, nicht aber Orthodoxe. Die Zeitschrift blendet dabei völlig aus, dass ein Drittel der Bewohner Jerusalems Araber sind. Das pro-israelische Israelnetz hingegen hebt hervor, dass 92% der Einwohner „glücklich“ und „zufrieden“ seien. In Tel Aviv seien es 86% und in Haifa nur 81%.

Die israelische Regierung betont den Aufbau der Stadt, so die Wiedererrichtung der 1948 von den Jordaniern gesprengten Tiferet Israel Synagoge im jüdischen Viertel der Altstadt. Der typische Bewohner des „Staates Tel

Aviv“ sieht in der „Heiligen Stadt“ ein verknöchertes, konservatives Konglomerat von Frommen, Spinnern und Fanatikern, denen tote Steine wichtiger sind als Lebenslust und irdische Genüsse. Andere sehen in Jerusalem einen faszinierenden Mythos, Gottesnähe, das „Herz der Nation“ und den „Mittelpunkt der Welt“.

Das Statistische Amt liefert Zahlen: Derzeit leben 815.300 Menschen in Jerusalem. 515.200 zählen zum jüdischen Sektor, 300.100 sind Araber. 2012 kamen in Jerusalem 22.800 Babys zur Welt, davon waren 14.300 jüdischer und 8.100 arabischer Herkunft. 35 % der Juden in Jerusalem bezeichnen sich als Haredim (ultra-orthodox). 45 % nennen sich fromm in unterschiedlichen Variationen und 20 % beschreiben sich als nicht-religiös.

Die Hälfte der Zuziehenden seien junge Menschen zwischen 20 und 34. Die Zahl der wegziehenden jungen Menschen habe sich in 4 Jahren um 70% verringert. 2013 gab es nach 20 Jahren einen Rekord bei Neubauten. 7 Mio. Menschen hätten 2013 an kulturellen Ereignissen teilgenommen. In Jerusalem wurden 4 Mio. Touristen und 3.893.300 Hotelübernachtungen gezählt. Im Durchschnitt hält sich ein Tourist 3,4 Tage lang in der Stadt auf. Jerusalem ist auch Kulturhauptstadt mit Wein- und Puppentheater-Festivals, sowie sportlichen Ereignissen wie einem Marathon mit 30.000 Teilnehmern. Mit 31.000 Hektar ist Jerusalem Israels „grösste“ Stadt. Die Durchschnittstemperatur liegt im Winter bei 12°C und im Sommer bei 29°C. Jerusalems Strassen haben eine Gesamtlänge von 1.640 km. Die Stadt verfügt über etwa 2.000 archäologische Stätten.

Kaum je erfasst wird die wahre Haltung der Araber/Palästinenser Jerusalems. Dank ihres israelischen Ausweises geniessen sie alle Vorzüge des israelischen Sozialstaates. Da sie aber die israelische Staatsbürgerschaft verweigern, verreisen sie bis heute mit einem jordanischen Pass. Gleichzeitig sind sie wahlberechtigt zum palästinensischen Parlament. Öffentlich, beim Interview, präsentieren sie sich als überzeugte Palästinenser und schimpfen über die israelische „Besatzung“. Aber im Privatgespräch verraten sie Angst, dass Jerusalem geteilt und die arabischen Viertel dem palästinensischen Staat zugeschlagen werden könnten. Im arabischen Sektor tragen heute auffällig mehr Frauen lange Kleider und Kopftücher als früher.

Während Juden in arabischen Vierteln als „Provokateure“ und „extremistische Siedler“ beschrieben werden, wie kürzlich in der Arte-Dokumentation 24hJerusalem, redet niemand über Tausende Araber, die unauffällig und problemlos in jüdischen Stadtvierteln jenseits der „Grenzen von 1967“ leben.

Wie lebt es sich in Jerusalem? Eigentlich völlig normal. Wer viel Bus und seit Neuestem Strassenbahn fährt, dem fällt das kunterbunte Miteinander auf. Fast jeder demonstriert seine Identität. Da sitzen Araber und ultraorthodoxe Juden, junge Soldaten und rundliche russische Babuschkas einträchtig nebeneinander. Man hört ein Babylon von Sprachen, wenn sie sich die Zeit mit lautem Telefonieren vertreiben.

Zum Einkaufen geht man je nach Geschmack zum jüdischen Supermarkt, zum russischen Laden für „Delikatessen“ wie Schweinefleisch oder zum arabischen Markt am Damaskustor, wo es Gewürze und Zutaten für unkoschere Speisen wie “Zicklein in der Milch seiner Mutter” gibt. Wer auf “Glatt-Koscher” steht, kennt die Läden in Mea Schearim.

Spürt man was von den in Medien vielbesungenen “Spannungen”? Eigentlich nur, wenn man zu den Brennpunkten geht, wo gerade was los ist. Das ist wie in Barcelona, Berlin, Athen oder Istanbul im “friedlichen” Europa, wenn bei Demos Mülltonnen entzündet und Polizisten mit Pflastersteinen beworfen werden.

In jedem Linienbus kleben Schildchen, die darauf hinweisen, dass jeder sitzen darf, wo er will. Von Geschlechtertrennung ist nichts zu sehen. Internationale Schlagzeilen machen „Preisschild“ Schmierereien jüdischer Extremisten an Kirchenmauern. Aber in arabischen Vierteln wie Silwan sind die Hauswände mit Hass-Graffiti übersät, darunter Hakenkreuzen. Doch die interessieren niemanden, gelten wohl als „normal“ und werden deshalb nicht beachtet. Jede israelische Flagge an einem „Siedlerhaus“ in arabischen Vierteln wird fotografiert und gilt als Provokation, nicht aber Abbildungen der Kaba von Mekka, mit denen Moslems genauso „Flagge“ zeigen.

Alles ist kompliziert in Jerusalem, weil hier Welten aufeinander stossen. Doch gerade das macht den besonderen Reiz aus. Die Vielfalt und das vergleichsweise friedliche Neben- und Miteinander bestätigen den Talmud-Spruch: Bei der Schöpfung liess Gott 10 Mass Schönheit auf die Welt herab. 9 Mass erhielt Jerusalem.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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4 Kommentare

  1. Wäre man nur auf die Print- und sonstige Medien angewiesen, würde man nichts erfahren wie es in Jerusalem (und Israel) in Wrklichkeit ausschaut. Darum dankt eine alte, nicht mehr reisefähige Jidene Audiatur und Ulrich Sahm.
    lg
    caruso

  2. lieber Uli- werde ich sofort weiterleiten- ja so ist es das heilige Pulverfass. Man wird diese Stadt lieben und manchmal vor ihr fliehen. Meschuggene aller Art gibt es dort wirklich genug. Aber man vergisst sie nicht – wer einmal da war, wird wiederkommen. Das geht nicht anders.
    Sie ist auf der Erde, im Himmel, im Herzen und in der Seele.

  3. Ich bin, wie so oft in der Vergangenheit, von der tollen Art der Brichtarstattung Von Herrn Sahm begeistert.
    Als Israeli neigt man zuoft zur strengen Selbstkritik und Ulrich Sahm's Berichte sind für mich ein Maasstab geworden. Einerseits kritisch aber doch gerecht. Vielen Dank dafür.

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