Zwischen allen Stühlen/Mauern und Betonblöcken

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Das Jacir Hotel, Foto Ulrich W. Sahm
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Der Besuch in Ramallah oder Bethlehem beginnt fast unweigerlich beim israelischen Checkpoint an der 8 Meter hohen Mauer. Es gibt jedoch auch Schleichwege. „Machsom 300“ (am Rachelsgrab) heisst der gepflegte Übergang nach Bethlehem. „Kalandia“, der „Eingang“ von Ramallah, ist ein stinkendes Chaos aus Bauschutt, Müll, verbrannten Reifen, aufdringlichen fliegenden Händlern und Bettlern, die wartende Autofahrer penetrant belästigen. Hier kann man auch frische Tauben und Hühnchen im Käfig kaufen: lebend, zum selber Schlachten. Dazwischen werfen palästinensische Jugendliche Steine vor der verrussten Mauer.

Hat man dieses Hindernis überwunden, gelangt man in ein surrealistisches Paradies, fast wie bei Alice im Wunderland.

Entlang dem ehemals vornehmen vierspurigen Boulevard zwischen den nahtlos ineinander übergehenden Nachbarstädten Jerusalem und Ramallah, säumen nun Dutzende oder gar Hunderte Hochhäuser die Schnellstrasse. Sie haben leere Fensterhöhlen und sind direkt auf dem Felsen hochgezogen worden, ohne Tiefgaragen, ohne Wasseranschluss, oder Strom. Auch über bereits bestehende Läden für Möbel, teure Autos, Markenkleider und anderen Schnickschnack sind wild mehrere Stockwerke mit öden Fensterhöhlen aufgesetzt worden. Dazwischen stehen Villen mit römischen Säuleneingängen, roten Ziegeldächern und einem BMW oder Mercedes vor der Haustür. Das ganze ist ein auffälliger und gleichwohl eigentümlicher Bauboom.

Ein Blick auf die Landkarte lehrt, dass viele dieser unbewohnten Hochhäuser innerhalb der politischen Stadtgrenzen Jerusalems stehen.

1967, nach der Eroberung Ost-Jerusalems, ist Jerusalem vor allem in Richtung Norden erweitert worden, um den inzwischen stillgelegten Flughafen einzugemeinden und zu annektieren. Als 2003 die Mauer errichtet worden ist, wurden zu Jerusalem gehörende und von Arabern bewohnte Gebiete de facto wieder „ausgemeindet“, jedoch ohne Neuziehung der politischen Grenzen. Das bedeutet, dass diese Gebiete zwischen Mauer und Ramallah weiterhin zu Jerusalem gehören. Im Prinzip müsste hier die israelisch-geführte Jerusalemer Stadtverwaltung weiterhin die Müllabfuhr jenseits der Mauer stellen. Das tut sie aber nicht, weil es Juden wegen Lebensgefahr verboten ist, „palästinensisches Gebiet“ zu betreten.

So ist ein typisch nahöstliches Phänomen entstanden: Gebiete unter israelischer „Kontrolle“ auf der palästinensischen Seite der Mauer. In der Folge kümmern sich die Israelis dort um nichts mehr, weil sie mit Militär „einmarschieren“ müssten. Die Palästinensische Autonomiebehörde PA wiederum darf sich nicht kümmern, weil es sich rechtlich um israelisches Gebiet handelt. Niemand erteilt Baugenehmigungen und palästinensische Polizisten dürfen sich dort nicht hinbegeben.

In Bethlehem gibt es ein ähnliches Phänomen. Nur dass es sich dort nicht um Jerusalemer Stadtgebiet handelt, sondern um israelisch verwaltetes „C-Gebiet“. Nahe dem Paradise Hotel, wo deutsche Pilger absteigen, und an der Ecke des vornehmen Jacir-Hotels stehen tonnenschwere Betonblöcke auf dem Bürgersteig. Sie markieren die virtuelle Grenze zwischen palästinensischem Territorium und israelischem Gebiet.

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Foto: Ulrich W. Sahm

In diesem „Niemandsland“ in Bethlehem liegt das berühmte Caritas Baby-Hospital, das vor allem von Spendern aus der Schweiz finanziert wird. In Bethlehem kann man auf dem Weg zurück nach Jerusalem vom Bus aus, beim Warten vor dem Grenzübergang, auf der linken Strassenseite eine Villa neben der anderen sehen. Ausnahmslos sind sie nach dem Jahr 2000 errichtet worden. Steinerne Abbildung des St. Georg zeugen von christlichen Erbauern und Besitzern der Villen. Die letzte Villa, keine zehn Meter von der Trennmauer entfernt, wirkt besonders üppig, mit einem Eisengitter, mit Blattgold bedeckten Speerspitzen.

Wer baut sich im Schatten der israelischen Betonmauer ein Traumhaus und warum? Die Antwort ist einfach: hier zahlt man keine Steuern und benötigt keine Baugenehmigung, weil sich niemand verantwortlich fühlt.

In Ramallah hat uns ein palästinensischer Wohnungsmakler bestätigt: „Meine Kunden kaufen für wenig Geld ein unbewohnbares Apartment in einem der Hochhäuser, also noch im Stadtgebiet Jerusalems. Tatsächlich leben sie in einer Villa irgendwo in Ramallah. Doch weil sie einen Wohnsitz in Jerusalem nachweisen können, behalten sie ihren blauen israelischen Ausweis, der ihnen Bewegungsfreiheit in ganz Israel bietet.“

Nicht weit von dort treffen wir in einer Autowerkstatt Imad (Name geändert). Er ist israelischer Staatsbürger, arabischer Christ aus Nazareth. Seine Werkstatt liegt jenseits der Mauer, ist also nur vom palästinensischen Ramallah aus erreichbar. Bereitwillig erzählt er uns in bestem Englisch auch aus seinem Privatleben. Wir fragen, wo er denn wohne, in Jerusalem oder Ramallah: „Weder noch, in einer Siedlung im besetzten Gebiet.“

Politisch korrekt formuliert handelt es sich bei Imad um einen „israelischen Siedler“, der in „Palästina“ arbeitet und mit seiner Familie in einer „völkerrechtswidrigen jüdischen Siedlung im besetzten Gebiet“ wohnt.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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