Israel: Der Tod von Shafik Kabha

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Der Mord an dem Sänger Shafik Kabha wirft Fragen zur grassierenden Gewalt innerhalb der israelisch-arabischen Gemeinde auf.

Eines Nachts im Oktober fuhr ein Mann durch die israelisch-arabische Kleinstadt Umm El-Fahm. Es war spät und der Mann müde. Er hatte den ganzen Abend gearbeitet und freute sich, nach Hause zu fahren und sich mit seiner Familie zu entspannen. Als er an der grossen Kreuzung anhielt, die aus der Stadt hinausführte, raste ein Roller herbei und hielt kreischend neben ihm an. Auf dem Roller sassen zwei Männer, der Fahrer und der Beifahrer. Der Beifahrer zog eine Waffe und erschoss den Mann im Auto aus nächster Nähe, dann raste der Rollerfahrer davon. Der Mann wurde in ein nahegelegenes Krankenhaus gebracht, dort aber kurze Zeit später für tot erklärt. Beinahe umgehend begannen die Anrufe und Zehntausende israelische Araber berichteten sich gegenseitig mitten in der Nacht, dass Shafik Kabha, Symbol der palästinensischen Musik und einer der bekanntesten Sänger in der arabischen Welt, tot ist.

Ihre Trauer war mehr als nur das bittere Gefühl des Verlustes, der die Seele durchdringt, wenn ein geliebter Entertainer verstirbt – besonders wenn er wie Kabha (53) jung und dazu eines gewaltsamen Todes stirbt. Es war persönlich: Im Verlauf seiner Karriere, die er mit 16 anfing, trat Kabha jährlich an Hunderten von Familienfeiern auf, er lieferte den Soundtrack für Hochzeiten und Parties und andere fröhliche Events. Kabha sang für seine Fans nicht auf einer entfernten Bühne in verrauchten Clubs oder grossen Stadien, sondern in ihren Hinterhöfen und Wohnzimmern. Seine Stimme – tief, klangvoll und wunderschön – war ein vertraulicher Teil der Erinnerungen seiner Fans.

Es war auch eine Stimme, die klar und deutlich ihre kulturellen Traditionen und politischen Bestrebungen zum Ausdruck brachte. Kabhas Musik verband klassische palästinensische Instrumente und moderne Empfindlichkeiten; in seinen Liedern war das Midschwiz zu hören, ein Holzblasinstrument mit zwei Rohrblättern, das ein fester Bestandteil des Klangs der Region ist, neben kunstvollen Orgelriffs, die den wildesten Solos von Keith Emerson glichen. Und oftmals waren seine Worte Hymnen an sein geliebtes Mutterland, die ihre verstreuten Söhne und Töchter dazu drängten, nach Hause zurückzukehren, und die den Tag ihrer Unabhängigkeit herbeisehnten.

Selbstredend blieben solche Worte im mehrheitlich jüdischen Israel nicht ohne Konsequenzen. Mehr als zehn Jahre wurde Kabha mit einem Auftrittsverbot im Westjordanland belegt – aus Angst, dass sein poetischer Nationalismus zu Aufständen anstiften könnte. Und doch war er für die arabische Welt oftmals zu israelisch und für die Israelis gleichzeitig zu palästinensisch: bevor Ägypten und Jordanien einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichneten, stellte Kabha fest, dass sein Reisepass und nicht seine Politik das Ausmass des Zugangs zu seinen Fans bestimmte; weil er israelischer Staatsbürger war, liessen ihn Jordanien und Ägypten nicht einreisen. Auch Frieden brachte nur wenig Trost: Ende der 1980er, auf dem Höhepunkt der ersten Intifada, wurde eins seiner Konzerte in Kairo schlagartig abgesagt, wobei das Regime von Mubarak die israelische Angst widerspiegelte, dass die Voice of Palestine nichts als Ärger bringen könnte.

Wenn ihm solch Kummer Angst machte, so zeigte er es nicht. Kabha blieb politisch offenherzig und nahm kein Blatt vor den Mund, zum Beispiel kritisierte er Israels Besetzung der Golan Höhen und zeigte sich solidarisch mit dem Volk in Gaza, aber er war nie bissig. In seinen Liedern und Texten wählte er eine subtile Art, mit Metaphern oder Witz. Statt gegen den ägyptischen Diktator zu wettern, der er ihm die Einreise verboten hatte, lobte er beispielsweise Mubarak auf ironische Weise, dass er „der einzige Politiker ist, der das Völkerrecht respektiert – er respektiert das Abkommen, dass er mit seinem geliebten Israel unterzeichnet hat.“ Seine Fans verstanden den von ihnen verehrten Sänger: sie verstanden ihn so, dass er gegen den Vertrag Position bezog, ein Vertrag, der in ihrer Wahrnehmung zwei Knebelstaaten miteinander verband, Israel und das Ägypten Mubaraks.

Mit politischen Unruhen als einer Konstante in seinem Leben und dem Nahen Osten so wie er ist, war es keine absurde Befürchtung, dass das Leben eines bekannten und eloquenten Mannes wie Kabha ein gewaltsames Ende finden könnte. Doch als die israelische Polizei Anfang November vier Tatverdächtige im Mordfall Kabha festnahm, waren viele überrascht. Die mutmasslichen Mörder, so wird angenommen, waren keine ausländischen Geheimagenten oder gefährliche ideologische Fanatiker; nein, es waren Vater und Sohn, erzürnt darüber, dass Kabha nicht auf ihrer Familienhochzeit auftreten wollte.

Doch in Israel, wo das Persönliche und das Nationale unzertrennbar sind, geriet die Suche nach einer tieferen Bedeutung dieses unbedeutenden und erschreckenden Racheakts bald in Gang. Ahmed Tibi, ein bekannter israelisch-arabischer Knesset-Abgeordneter, nahm sich das Parlamentspodium und griff die israelische Gesellschaft verbal an, weil sie den Mord an Kabha mehrheitlich ignorierte. Wenn ein jüdischer Sänger vom Kaliber Kabhas ermordet worden wäre, so Tibi, hätten die israelischen Medien über nichts anderes berichtet, wohingegen der Tod von Kabha ausserhalb der arabischen Gemeinde in Israel grösstenteils unbemerkt blieb.

Genauer gesagt, nachdem mehr als 10.000 Fans an Kabhas Beerdigung teilnahmen, versammelten sich weitere Tausende an sporadischen Treffen in den Tagen und Wochen nach seinem Mord und forderten, dass die Polizei rigoros gegen den steilen Anstieg an Gewalt unter israelischen Arabern vorgehen solle. Nebst Investitionen in die grösste Minderheit im Land – Araber machen gegenwärtig 20 Prozent der israelischen Bevölkerung aus – werden die Bedürfnisse dieser Gemeinde nicht bedient; nebst wirtschaftlichen Bedingungen, die der landesweiten Norm nachhinken – ein israelisch-arabischer Angestellter verdient durchschnittlich nur 61 Prozent des Gehalts seines jüdischen Pendants; nebst des andauernden Konflikts, der dazu geführt hat, dass viele israelische Araber sich selbst als Palästinenser definieren; und nebst einer Menge sozialer Faktoren, wie die rapide Bewegung/Entwicklung von der traditionellen Clan-Struktur zu einer vornehmlich auf Kleinfamilien basierenden Struktur, wütet Verbrechen innerhalb der israelisch-arabischen Gemeinde. Unerlaubter Waffenbesitz ist allgegenwärtig. Und gemäss der Jahresstatistik 2012 der israelischen Polizei waren 20 Prozent aller Morde durch „inter-Clan Streitigkeiten“ motiviert, ein Phänomen, dass vorwiegend innerhalb der arabischen Gemeinde verbreitet ist. Nach dem Mord an Kabha stellten israelisch-arabischer Kritiker der Polizei fest, dass von Juden angeführte Verbrecherorganisationen auch als solche klassifiziert und energisch bekämpft werden, von Arabern angeführte Verbrecherorganisation hingegen lediglich als Clans bezeichnet werden, was die wahrgenommene Bedrohung, die sie für die Gesellschaft darstellen, abschwäche.

Weniger als eine Woche nach Kabhas Tod organisierte eine Gruppe junger Menschen aus Kafr Qara, Kabas Heimatstadt, eine Petition an den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu und forderten ihn auf, die Verbrechensbekämpfung in der israelisch-arabischen Gemeinde zur Priorität zu erklären. „Wir als Bürger des Staates verlangen gleichberechtigt behandelt zu werden“, heisst es in der Petition. „Wir verlangen, dass das Kabinett diese Angelegenheit thematisiert und einen umfassenden Plan erarbeitet, Verbrechen zu bekämpfen und diese Morde zu lösen. Wir verlangen, dass die Polizei bessere Richtlinien und bessere Instrumente erhält, mit diesen Herausforderungen zu umzugehen. Und wir verlangen die Anerkennung und den Respekt, der uns, ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung, gebührt.“ Shafik Kabha würde dem zustimmen.

Originalversion: In Israel, Death of a Wedding Singer Who Was an Icon of Palestinian Culture by Liel Leibovitz, Tablet Magazine, November 27, 2013 ©Nextbook Inc.