Der Holocaust als Schlachtfeld der Erinnerungen

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Es gibt nur wenige Länder, in deren gemeinsamer Erinnerung die Widersprüchlichkeit zwischen dem Gedenken an den Holocaust und seiner Verzerrung so gravierend ist wie in den Niederlanden. Dieses Phänomen war zum Beispiel am 4. Mai zu beobachten, dem niederländischen nationalen Gedenktag für die Opfer der deutschen Besatzung. Die bei weitem grösste Opfergruppe des Holocaust waren die hunderttausend holländischen Juden – mehr als 70 Prozent der Vorkriegsgemeinde.

In der Kleinstadt Vorden entschied man sich dafür, dass die Teilnehmer an der Zeremonie für die holländischen Opfer zusammen auch die Gräber der deutschen Soldaten besuchen sollten, die dort begraben sind. Ursprünglich war ausserdem geplant, dass der örtliche Chor am Grab ein deutsches Lied singen sollte; dieses Vorhaben wurde bald fallen gelassen.[1] Und eine jüdische Organisation erreichte eine richterliche Verfügung, die dem Bürgermeister – einem der Hauptvertreter für ein Weisswaschen der Kriegsvergangenheit – die Teilnahme am Besuch der deutschen Soldatengräber untersagte. Einige Juden mieteten sich ein Flugzeug, das mit folgendem Banner über die Stadt flog: „Vorden auf Abwegen“.

In einer weit verbreiteten Pressemitteilung verurteilte das Simon-Wiesenthal-Center die Behörden von Vorden und warf ihnen Geschichtsklitterung vor:„Indem deutsche Soldaten geehrt werden, die im Namen des grausamsten Regimes in der Menschheitsgeschichte die Niederlande besetzt haben und durch die Besatzung den Massenmord an den holländischen Juden unterstützen, haben die örtlichen Behörden in Vorden die Kriegsgeschichte letztlich neu geschrieben und die wichtige Unterscheidung zwischen Opfern und Täter ausradiert. Diese Entscheidung basiert offenbar auf der irrtümlichen Annahme, dass Vergebung automatisch zur Versöhnung führt; sie blendet die entsetzliche Natur des Nazi-Regimes aus und ist eine Beleidung seiner Opfer.“

Man könnte ergänzen, dass die gegenwärtige friedliche Ko-Existenz zwischen den Ländern Europas nun wirklich keine Geschichtsverfälschung braucht.

Doch der Vorfall in Vorden war nicht der einzige. Das nationale Komitee für das Gedenken wählte einen 15-jährigen Jungen, bei der nationalen Gedenkzeremonie in Amsterdam ein eigenes Gedicht vorzutragen. Darin erinnert er an seinen Onkel, dessen Namen er auch trägt: einen Angehörigen der Waffen-SS. Nach Protesten wurde sein Vortrag gestrichen.

Die holländischen Weisswäscher des Zweiten Weltkriegs und Holocaustleugner haben unterschiedliche Hintergründe. Viele gehören zu den Familien jener, die mit Nazi-Deutschland kollaboriert haben. In den Niederlanden gab es 25.000 Freiwillige in der Waffen-SS: das war die grösste Beteiligung in Europa. Und es gab viele weitere Kollaborateure, nicht nur die, die der holländischen Nazi-Partei angehörten. Andere glauben irrtümlicherweise, ausser Hitler und einer Gruppe von Fanatikern seien auch alle anderen Deutschen Opfer des Regimes gewesen.

Ein weiterer Aspekt bezieht sich auf die Schändung von Holocaust-Gedenkstätten und anderen jüdischen Orten[2], etwa Hakenkreuz-Schmierereien.[3] Bis 2010 zählten antisemitische Bemerkungen auf Internet Seiten zur grössten Gruppe der Hass-Einträge auf Holländisch. Holocaust-Leugnungen finden sich in Web-Blogs, aber auch in bekannten populären Zeitungen. Als er noch Fraktionsführer seiner Partei war, sagte der niederländische Ministerpräsident Marc Rutte – seines Zeichens Historiker –, dass die Leugnung des Holocaust nicht bestraft werden solle.[4] Damit war seine Partei allerdings nicht einverstanden.[5]

Auf der anderen Seite wird es schwer sein, ein Land zu finden, das der Erinnerung an seine zerstörten jüdischen Gemeinden so viel Aufmerksamkeit schenkt wie die Niederlande. Viele Stadtverwaltungen reinigen und unterhalten regelmässig jüdische Friedhöfe. Einige Organisationen und Privatleute stellen sogar umgefallene Grabsteine wieder auf und restaurieren die Inschriften.

In vielen Städten gibt es nicht nur Gedenktafeln für die ermordeten Juden, sondern auch Pläne für neue.[6] In unzähligen Städten erinnern “Stolpersteine” vor Häusern an die jüdischen Menschen, die darin bis zu ihrem Tod gewohnt haben, und für die Zukunft sind viele mehr geplant. In einigen Städten werden jüdische Denkmäler „adoptiert” und von Schulkindern gereinigt. Viele Synagogen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Betrieb waren, wurden in den letzten Jahrzehnten restauriert und dienen unter anderem als Kulturzentren. In einigen finden sogar jüdische Gottesdienste statt. Zudem gibt es über das Jahr verteilt viel mehr Gedenkveranstaltungen und Aktivitäten als anderswo.

Die Ignoranz und Zweideutigkeit vieler Behörden wird von Ministerpräsident Rute dagegen am besten verkörpert. Zu Beginn des Jahres wurde öffentlich diskutiert, dass eine Entschuldigung für das fast gänzliche Desinteresse der niederländischen Kriegsregierung am Schicksal der holländischen Juden immer noch fehlt. Geert Wilders und Raymond de Roon, Parlamentarier der Freiheitspartei, stellten in dieser Sache mehrere Anfragen an den Ministerpräsidenten. Rutte lehnte eine Entschuldigung ab. Seine Begründung hatte dabei nichts mit den Fragen zu tun, die ihm gestellt worden waren.

Indem die Niederlande es weiterhin ablehnen, das Fehlverhalten ihrer Behörden während der Kriegszeit anzuerkennen, bleiben sie weit hinter anderen westlichen europäischen Regierungen zurück. Viele der oben dargestellten Phänomene sind auch in anderen Ländern zu beobachten; doch nur für die Niederlande kann es in dieser Deutlichkeit analysiert werden.

Dr. Manfred Gerstenfeld ist Mitglied des Aufsichtsrates des Jerusalem Center for Public Affairs, dessen Vorsitzender er 12 Jahre war.



[1] “Verzet tegen dodenherdenking Vorden groeit”, De Stentor, 3 mei 2012. [Dutch]

[2] “Hakenkruis op Joodse Poortje”, De Weekkrant, 25 April 2012. [[Dutch]

“Joods gedenkbord in Druten bekrast,” Gelderlander, 26 April 2012. [Dutch]

[3] Swastika’s op terrein bouwspeelplaats  Thialf in Arnhem,” De Gelderlander 3 May 2012, “Hakenkruis gespoten op muur in Lochem,” De Stentor, 6 May 2012. [Dutch],

 [4] Rutte: holocaust ontkennen moet kunnen”, Elsevier, 27 May 2009. [Dutch]

[5] “Ophef in VVD om uitspraak Rutte Holocaust”, NRC, 28 May 2009. [Dutch]

[6] Philip Frankplein krijgt monument en waardige inrichting, , Gemeente Haarlem, 8 March 2012. [Dutch]

www.haarlem.nl/nieuws/nieuwsbericht/artikel/philip-frankplein-krijgt-monument-en-waardige-inrichting/