Das Dilemma mit der Ausschaffung

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Es ist unvermeidlich, dass entwickelte Länder Migranten auf der Suche nach Freiheit oder besseren ökonomischen Möglichkeiten anziehen; und offenbar genauso unvermeidlich ist es, dass es einheimische Bürger gibt, die negativ reagieren, weil sie Nachbarschaft und Lebensunterhalt von den hinzukommenden billigen Arbeitskräften bedroht sehen.

So gesehen war die Nachricht von der jüngsten Gegenreaktion in Israel gegen die vielen illegalen Migranten im Land zu erwarten gewesen. Ende Mai hatte sich die Situation zugespitzt, als die mutmassliche Vergewaltigung einer Israelin durch einen afrikanischen Migranten bekannt wurde. Als Demonstrationen ausbrachen, die von vereinzelten Gewaltausbrüchen begleitet wurden, verkündete die Regierung ihren Entscheid, eine Politik der gezielten Ausschaffung umzusetzen.

Einige Faktoren machen den israelischen Fall jedoch einmalig. Zum einen ist Israel eher als Spätzünder zu den Reihen der weltweit am weitesten entwickelten Länder gestossen, sodass erst in den letzten zwei Jahren die schiere Anzahl illegaler Migranten ein Mass erreicht hat, das Angst erzeugt. Viel wichtiger ist allerdings vielleicht, dass Israel – als einziger Staat dieser Welt mit einer jüdischen Mehrheit – bereits Grund hat, um sein demographisches Gleichgewicht besorgt zu sein. Angesichts Millionen palästinensischer „Flüchtlinge“, die einen Anspruch auf Rückkehr erheben, wundert es wenig, dass nicht-jüdische Immigranten als existenzielle Bedrohung für das zionistische Projekt wahrgenommen werden.

Das wiederum führt zu einem weiteren Faktor, der einmalig ist: Es ist die Erinnerung an Entfremdung und Wurzellosigkeit, die jüdische Menschen selbst begleitet, eine Erinnerung, die zurückreicht bis ins alte Ägypten. Sicherlich haben die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht dazu beigetragen, dass sie in Vergessenheit gerät. In der Tora finden sich wie in der rabbinischen Literatur unzählige Gelegenheiten, bei denen Juden eindringlich ermutigt werden, den ger (Gast)  zu lieben und aufzunehmen, weil sie selber Migranten im Land Ägypten waren.

Kann Israel einen Weg finden, die Sorge um den Fremden aufrecht zu erhalten, die zum Judentum gehört, ohne seine demographische Beschaffenheit zu beeinträchtigen? Weit links gibt es vehementen Widerstand gegen den Grenzzaun zu Ägypten der gerade gezogen wird – von denen, die Sorgen um den Erhalt der jüdischen Mehrheit des Staates nicht kennen; und dabei sprechen wir noch nicht von einer möglichen Ausschaffung illegaler Migranten. Am anderen Ende des politischen Spektrums gibt es Knesset-Abgeordnete, die Migranten als „Krebsgeschwür“ bezeichnet haben; einer ging so weit zu fordern, dass jeder erschossen werden solle, der versuche, illegal ins Land einzudringen. Dann gibt es noch Innenminister Eli Yishai, der – ungeachtet seiner nordafrikanischen Herkunft – verkündetet, dass Israel „uns“ gehört, „dem weissen Mann“.

Das sind extreme Ansichten; doch es zeichnet sich ein politischer Konsens ab, der einen sensibleren Mittelweg bevorzugt, wie er in Äusserungen hochrangiger Regierungsbeamter und sogar in der Regierungspolitik zum Ausdruck kommt, die sich  schrittweise in Richtung einer moderaten und ausgeglichenen Resolution zu bewegen scheint.

In gewisser Hinsicht ist ein Gleichgewicht bereits eingekehrt, und zwar eigentlich durch Tatenlosigkeit. Einerseits ist dem Staat klar, dass die Ausschaffung an gefährliche, lebensbedrohliche Regimes wie den Sudan oder Eritrea, aus denen die grosse Mehrheit der Migranten stammt, gar nicht erst in Frage kommt. Andererseits würde jede Anerkennung eines Aufenthaltsrechts de iure eine zunehmende Migration ermutigen. So bleibt es beim status quo der Duldung, der illegale Migranten in der Schwebe hält – weder haben sie eine Arbeitserlaubnis noch werden sie ausgeschafft. Gesetze, die Migranten an illegaler Arbeit hindern sollen, werden nicht durchgesetzt.

In der Praxis werden illegale Migranten nach einem kurzen Gewahrsam an der ägyptischen Grenze zum zentralen Busbahnhof im Süden Tel Avivs gebracht und dann einfach aus dem Gewahrsam entlassen. Die meisten gehen in den nahegelegenen Levinsky-Park, der als de-facto-Auffanglager fungiert und zentraler Ort ist für Nichtregierungs-Organisationen, die Hilfestellungen bieten. Letztendlich ziehen die meisten Migranten in überfüllte Wohnungen und arbeiten als Handarbeiter.

Dieses unausgereifte Arrangement hat sich entwickelt, bevor die Migration ihren derzeitigen Umfang erreicht hat; inzwischen hat es sich angesichts des raschen Anstiegs als offensichtlich unhaltbar erwiesen. Aufgrund des Versagens, die aufkommende Krise entweder nicht vorhergesehen zu haben oder eindämmen zu können, zunehmend unter Druck, schmiedet die Regierung allmählich an einer umfassenden Politik; zu ihr gehört sowohl der Bau eines Grenzzaunes zu Ägypten hin  als auch eine Gewahrsamseinrichtung im Negev, die Migranten bis zu drei Jahren aufnehmen können, bis ihr Status geklärt ist.

Die Regierung einschliesslich von Ministerpräsident Netanyahu hat ausdrücklich erklärt, dass Migranten nicht in den Sudan oder nach Eritrea zurückgeführt werden, aber Israel hat begonnen, illegale Migranten aus dem Südsudan und der Elfenbeinküste abzuweisen; beides sind Staaten, die diplomatische Beziehungen mit Jerusalem unterhalten und in denen das Leben der Auszuschaffenden nicht als bedroht gilt. Einstweilen haben Netanyahu, der Knesset-Sprecher Reuven Rivlin, Aussenminister Avigdor Lieberman und der arabische Knesset-Abgeordnete Ahmed Tibi rassistische Rhetorik und gewaltsames Verhalten gegenüber Migranten verurteilt, auch wenn sie Massnahmen befürworten, Migration zu beschränken und die Migranten auszuschaffen, die tatsächlich ausgeschafft werden können.

Indem Israel den Zutritt ins Land und durch endlose Verzögerungen den Eintritt ins Zivilleben erschwert, hofft der Staat, diejenigen abzuschrecken, die lediglich auf der Suche nach ökonomischen Chancen sind. Fälle von bona-fide-Flüchtlingen und Asylsuchenden hingegen werden bearbeitet; bei Anerkennung erhalten sie einen ordentlichen Status. Was die Migranten angeht, die sich bereits in Israel aufhalten, wird die Mehrheit eine Form der Anerkennung oder Amnestie erhalten. Wenn erst einmal die Infrastruktur des Grenzzauns wirkt, verringert sich zumindest das Risiko, dass aus 60.000 Migranten 600.000 werden.

Allerdings könnte sich natürlich die Situation auf der Strasse verschlimmern, bevor das geschieht. Doch es gibt Grund genug, optimistisch zu sein, dass es Israel gelingen wird, den notwendigen Erhalt seines demographischen Charakters ins Gleichgewicht zu bringen mit der jüdischen Tradition für den Fremden zu sorgen – genauso wie es Grund zur Hoffnung gibt, dass eine verantwortungsvolle Regierungspolitik einen beruhigenden Effekt auf die störrische Bürgerschaft haben wird.

Originalversion: Deportation Dilemmas by Elli Fischer © Jewish Ideas Daily, June 28, 2012.

2 Kommentare

  1. Ach, hat Israel auch eine "Leitkultur"? Dieses Unwort machte in Deutschland vor ein paar Jahren als Resultat der Angst vor "Überfremdung" die Runde. Die ganze Diskussion gipfelte dann in Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab". Nun, ich finde, ein jeder Mensch ist mehr wert als irgendwelche Bestrebungen zur kulturellen, nationalen oder gar rassischen "Reinhaltung". Das ist mir viel zu nah an Hitlers Rassegesetzen.

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