Libyens bevorstehende Wahlen

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Ein Plakat der Partei für Gerechtigkeit und Aufbau, auch Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei genannt. Sie ist die politische Partei der Muslimbrüder in Libyen. Foto Ahwa Talk
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Libyens Ausbruch aus den Jahren der Diktatur gestaltet sich erwartungsgemäss steinig. Das Land bewegt sich im kommenden Monat auf seine ersten nationalen Wahlen in der Zeit nach Gaddafi zu, aber der Prozess ist von beträchtlicher Verwirrung und tiefgehenden Differenzen geprägt. Die libyschen Kandidaten und Wähler begannen mit der Registrierung für die Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung im Juni, die mit der Erarbeitung einer neuen Verfassung beauftragt werden wird. Jedoch hat ein kürzlich erlassenes Gesetz zur Beschränkung politischer Parteien einige Verwirrung ausgelöst.

Vergangene Woche verbot der Nationale Übergangsrat (NTC) politische Parteien, „die auf Religion oder ethnischer oder Stammeszugehörigkeit basieren“, doch die Auswirkungen sind unklar. Als das Gesetz erstmalig bekannt gegeben wurde, beschwerte sich die der Muslimbruderschaft nahestehende Partei: „Wir verstehen dieses Gesetz nicht … Es könnte bedeutungslos sein, aber es könnte auch bedeuten, dass niemand von uns an der Wahl teilnehmen könnte.“ Es ist auch unklar, wie das Gesetz diejenigen Parteien beeinflusst, die sich auf regionalen Themen begründet haben, ein entscheidender Faktor für die libysche Politik. Tatsächlich wollen einige Gruppen das Wahlgesetz in seiner Gesamtheit verwerfen und durch ein föderalistisches System ersetzen. Anstatt Führungskräfte auf Grundlage der Bevölkerung in den grössten Städten zu wählen, wie es das derzeitige Gesetz vorsieht, wollen die Befürworter des Föderalismus den Wahlen die drei Regionen Libyens zugrunde legen: Tripolitanien (in dem sich Tripolis, die politische Hauptstadt, befindet); Fessan im Südwesten und die Kyrenaika im Nordosten, in der sich Bengazi und der Grossteil der erheblichen Ölreserven des Landes befinden. Es überrascht nicht, dass die stärksten Forderungen nach Föderalismus aus dem an Erdöl reichen östlichen Teil des Landes entstammen. Demonstranten und Politiker um Bengazi herum sagen, dass sie, während sie den Nationalen Übergangsrat (NTC) als ihren legitimen Vertreter in internationalen Angelegenheiten anerkennen, ihre eigenen finanz- und sicherheitspolitischen Fragen lokal verwalten wollen. Die Westlibyer und der Übergangsrat haben die Forderungen nach Föderalismus verurteilt und charakterisieren sie als spaltend und schädlich. Unter der schwachen Zentralregierung brechen Konflikte zwischen rivalisierenden Gruppen auf und könnten weitere Gewalt bedeuten. Wenn Libyen nicht dahinterkommt, wie es die Macht und Ressourcen zwischen dem Osten und dem Westen verteilt, könnte es mit einer Situation konfrontiert werden, die an den Irak erinnert, wo Ungleichheiten bei den Ressourcen und regionale Spaltungen dazu beitrugen, das Land in einen Bürgerkrieg zu treiben.

Neben Streitigkeiten über die Verwaltungsstruktur und der Unsicherheit bezüglich der kommenden Wahlen, steht Libyen vor einer besonders herausfordernden Kombination von Faktoren, die seinen Weg zur Demokratie im besten Fall mühevoll machen werden. Die Zivilgesellschaft ist schwach: Das Land ist noch immer voller Waffen, trotz Bemühungen sowohl von Seiten des NTC als auch der internationalen Gemeinschaft sie zu sichern, und ehemalige Rebellen verbleiben ausserhalb der staatlichen Kontrolle und haben viele Städte und Stadtteile so gut wie unter ihre Kontrolle gebracht. Libyens durchlässige Grenzen verschlechtern seine dürftige Sicherheit, und Misstrauen und Racheakte sind weit verbreitet. Etwa 70.000 Menschen im Land sind weiterhin auf der Flucht, zu verängstigt, um in ihre Häuser zurückzukehren. Korruption ist ebenfalls ein reales Problem, mit massivem Betrug zulasten einer Entschädigungsregelung für diejenigen, die gegen Gaddafi kämpften. Nach einer im Winter von Wissenschaftlern der Oxford University durchgeführten Umfrage sagten nur 15 Prozent der Libyer, dass sie im kommenden Jahr eine Form der Demokratie wollten, während 42 Prozent die Hoffnung äusserten, ein neuer starker Mann möge auftauchen.

Trotz all dieser Herausforderungen wette ich an dieser Stelle nicht gegen Libyen. Es ist dem Land gelungen, seine Erdölproduktion fast auf Vorkriegsniveau wiederherzustellen, wodurch es bedeutende Ressourcen bereitstellt, um auf die Bedürfnisse der Bürger einzugehen und die schmerzlich fehlende Infrastruktur des Landes zu entwickeln. Seine Bevölkerung ist jung und bestens ausgebildet. Erstaunlicherweise hat es im Herbst die Schulen geöffnet, mit mehr als einer Million eingeschriebenen Studenten im Januar. Viele talentierte und zielstrebige Emigranten sind zurückgekehrt, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen. Einige stellen infrage, ob die Wahlen angesichts all der Ungewissheit und des Misslingens, die Milizen zu entwaffnen, nicht verschoben werden sollten. Während eine Verzögerung von ein paar Monaten notwendig sein könnte, um technische Fragen zu klären (beispielsweise für eine ausreichende Wählerregistrierung zu sorgen), bezweifle ich, dass eine Verzögerung darüber hinaus einen grossen Unterschied weder bei der Entwaffnung der Milizen noch bei der Begradigung der unzähligen Probleme Libyens machen wird. Tatsächlich könnte eine längere Verzögerung diese Probleme noch verschlimmern, indem sie sie unter einer schwachen Regierung, der es an Legitimität fehlt, weiterschwelen lässt.

Originalversion: Libya’s Upcoming Elections by Isobel Coleman © Council on Foreign Relations. May 2, 2012. Deutsche Übersetzung © Audiatur-Online.