Die Militärgerichte sind eine Waffe

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Bitterlemons (BI): Welcher rechtliche Rahmen existiert eigentlich für willkürliche und politische Verhaftungen in Ägypten?

Bakry:  Der „Ausnahmezustand“ gibt den Behörden einen weiten Handlungsspielraum, in dem sie tun, was sie wollen. Das Militärgesetz wurde vor einigen Jahren dahingehend geändert, dass sie bestimmen können, wann normale Bürgerinnen und Bürger dem Militärgericht überstellt werden und für wen militärische Verfügungen gelten sollen. Damit wird die Verfolgung von jedem ermöglicht, von Inhaftierten aufgrund von Gewissensgründen und von Gegnern des Regimes. Damit können [Behörden] unbehindert agieren, Kritik ist erheblich schwieriger geworden. Auf dieser Grundlage sind sie gegen die Muslimbruderschaft vorgegangen; 2005 haben sie viele Mitglieder der Muslimbruderschaft verhaftet und an Militärgerichte übergeben. Zivile Bürger den Militärgerichten zu überstellen ist eine Waffe, die das Regime einsetzt, um seine Gegner niederzustrecken.

Seit der Revolution wurde das im grossen Massstab durchgezogen. Während der Herrschaft von [Ex-Präsident Hosni] Mubarak wurden etwa 3000 Bürger vor ein Militärgericht gestellt. Seit die Armee am 28. Januar 2011 [eingesetzt wurde], kam es bis heute zu 15.000 Militärprozessen. Typisch ist, dass in jeden Fall viele Menschen involviert sind: Als Aktivisten beispielsweise auf dem TahrirPlatz campiert hatten und am 9. März 2011 verhaftet und vor ein Militärgericht gestellt worden sind, ging es dabei um ungefähr 200 Personen, und für jede Verhandlung wurden sie in Gruppen zu je 30 Personen aufgeteilt. 15.000 Prozesse heisst also nicht, dass es nur um 15.000 Bürger geht – es können doppelt so viele sein.

Im September hat [der Oberste Militärrat] auf einer Pressekonferenz eingeräumt, dass es seit Beginn der Revolution 12.000 Militärfälle gab; es seien aber nur 6.000 Bürger verhaftet worden. Das Problem ist die fehlende Transparenz, wir kennen die Wahrheit nicht.

BI: Können Sie die Bedingungen beschreiben, unter denen Verhaftungen, Inhaftierung und Prozesse stattfinden?

Bakry: Als die Armee [eingesetzt wurde], fing sie an, Personen willkürlich zu verhaften – jeder, der den Tahrir-Platz verliess, um Essen zu holen, konnte verhaftet werden; oder jeder, der sich nach Ausgangssperre auf der Strasse aufhielt. Es kommen immer weitere bizarre Vorfälle zutage; zum Beispiel wurde jemand in seinem Laden von der Militärpolizei gefragte „Bist du der Soundso?“, und als er verneinte, sagten sie: „Du kommst mit uns, damit wir das bestätigen können“. Sie nahmen ihn mit, und er wurde vor dem Militärgericht angeklagt, die Identität einer anderen Person gestohlen zu haben.

Der Blogger Michael Nablil wurde von seinem Zuhause weg zehn Monate lang inhaftiert aufgrund seines Blogs „Volk und Armee sind nicht eins”. Ihm wurde ohne Anwalt und ohne seine Familien zu benachrichtigen der Prozess gemacht. Wir standen draussen vor dem Militärgericht; sie sagten uns, wir sollten nach Hause gehen, weil der Prozess sich verzögern würde, und nachdem wir gegangen waren, wurde sein Fall nachts verhandelt. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt.

Es gibt Fälle, die sind lächerlich. Dahinter steckt keine besondere Logik – die Botschaft ans Volk ist:  die Freiheit, wie du sie gefordert hast, gibt es nicht.

Die Prozesse werden unglaublich hastig geführt. Wenn du heute verhaftet wirst, kannst Du innerhalb von zwei Tagen zu fünf oder zehn Jahren Haft verurteilt sein. [Der 19-jährige] Muhammad Ishaq ist zu 25 Jahren Haft verurteilt worden; er lag nach einer Operation zuhause im Bett, als sie ihn mitnahmen und zu lebenslänglicher Haft verurteilten. Soweit ich weiss, leidet er an Epilepsie. Die Anklage lautete auf Besitz eines Molotov [Cocktails] oder anderer Waffen angeklagt, so wie bei den meisten, die unter falschen Anschuldigungen verurteilt werden.

Zeugenaussagen machen deutlich, dass es bei den Verhaftungen und im Gefängnis dann zu sehr vielen Menschenrechtsverletzungen kommt. Familien bezeugen, wie sie wochenlang nach Verwandten überall in Krankenhäusern gesucht und dann herausgefunden haben, dass sie in einem Militärgefängnis waren. Als sie dann dort ankamen, haben sie ihre Verwandten oft nicht erkannt wegen der Schläge und Misshandlungen, denen [die Inhaftierten] ausgesetzt gewesen waren.

BI: Können Sie die berüchtigten „Jungfrauentests“ kommentieren?

Bakry: Diese „Jungfrauentests“ ereigneten sich bei der Auflösung der Demonstration vom 9. März [vergangenen Jahres]. Eine Gruppe von sieben Frauen wurde aufgefordert, sich in zwei Reihen aufzustellen – die Jungfrauen in die eine, die andern in die andere Reihe. Sollte sich die Angaben zur Jungfräulichkeit als falsch herausstellen, hiess es, würde die Betreffende der Prostitution angeklagt. Die Frauen [die das miterlebt hatten], standen unter Schock und sprachen lange Zeit nicht darüber. Schliesslich hat eine von ihnen es ausgesprochen. Dann hat Samira Ibrahim Klage eingereicht, und Rasha Abdel Rahman hat sich ihr erst kürzlich angeschlossen.

BI: Dazu wurde gerade eine Verfügung erlassen?

Bakry: Ja, es wurde eine Verfügung erlassen, dass keine „Jungfrauentests“ in Gefängnissen oder von der Armee durchgeführt werden dürfen. Aber der Fall ist anhängig; die Verantwortlichen müssen bestraft werden. Wenn etwa die Angreifer verhaftet und bestraft würden, das wäre ein Sieg. Denn es werden viele Verfügungen erlassen, die vor Ort dann keine Auswirkungen haben.

BI: Wie sieht die Politik des Obersten Militärrat SCAF im Vergleich zu der der Ära Mubarak aus?

Bakry: Mubarak ist mit Gegnern mal sanft umgegangen, mal sehr rau. Anfangs herrschte beim SCAF null Toleranz – die grosse Anzahl an Militärprozessen zeigte, dass sie rigoros gegen Menschen vorgehen wollten, um sie zum Schweigen zu bringen. Seit es ein gewähltes Parlament gibt, bewegt SCAF sich mehr hinter der Bühne und lässt eine Pufferzone zwischen sich und dem Volk. Der SCAF dachte wohl, er könne Ägypten dahin zurückbringen, wo es vor dem 25. Januar war; aber er musste feststellen, dass das nicht ganz so leicht ist.

BI: Welche Rolle spielten die Angriffe aus der Öffentlichkeit auf Sicherheitshauptquartiere und die Aufdeckung versteckter geheimer Haftzellen im letzten März?

Bakry: Aktivisten und Bürger betraten die Sicherheitshauptquartiere, aber [die Sicherheitskräfte] waren es, die [die Hauptquartiere] geöffnet haben. Es war ein Spiel, um die Bürger glauben zu machen, sie hätten staatliche Sicherheitshautquartiere angegriffen, alles habe sich verändert, und sie müssten keine Angst haben. Aber es sind noch immer dieselben Offiziere da, und kurz nach der Revolution wurden Aktivisten wieder von der Strasse gegriffen. Das einzige, was sich verändert hat, war die Tatsache, dass Offiziere Urlaub erhielten. Dann ist die Staatssicherheit wieder zur Tagesordnung übergegangen unter ihrem neuen Namen „Nationale Sicherheit“. Nicht die Revolution hat die Macht übernommen; die Macht liegt bei den Verlängerern des Mubarak-Regimes.

BI: Wie sehen die Militärprozesse von Bürgern im Vergleich zu den politischen Prozessen aus?

Bakry: [Mubaraks Prozess] wird von den Menschen als theatralische Farce angesehen; hier hat der SCAF sein wahres Gesicht gezeigt. Der SCAF hat die Revolution nicht geschützt und für keine wirkliche Veränderung gesorgt. Kein Offizier wurde verurteilt; sie wurden alle freigesprochen. Jeden Tag wird ein Offizier für unschuldig erklärt – das ist die Vorbereitung für Mubaraks Freispruch. Wenn niemand Gewalt gegen die Menschen angewandt hat, wem soll Mubarak dann Befehle erteilt haben?

Published 1/3/2012 © bitterlemons-international.org

Amal Bakry ist Mitglied der ägyptischen Aktivistengruppe No Military Trials for Civilians (Zivile nicht vor Militärgerichte).

Originalversion: Military courts are a weapon – an interview with Amal Bakry bitterlemons.org, March 01, 2012 Edition 9 Prisoners and the Arab spring,

Articles in this edition • Seeking a new horizon for Palestinian prisoners – Shawqi Issa • Continuity in Egypt – an interview with Saad Eddin Ibrahim • Military courts are a weapon – an interview with Amal Bakry • Holding a mirror to the Israeli-Palestinian conflict – Yossi Alpher