Wie sich jüdisches Leben und Wissen verändert hat

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Prof. Michael Berenbaum

„In den letzten Jahrzehnten hat sich jüdisches Leben und Wissen enorm verändert. Die Neuausgabe der Encyclopedia Judaica neben die erste von 1972 zu stellen, ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Bei einem Vergleich der beiden zeigt sich, wie sehr sich doch Gemeinden und Ansichten verändert haben.“

„So haben wir mit angesehen, wie Universitäten und damit Schauplätze jüdischer Gelehrsamkeit und des Lernens entstanden sind; wir wurden Zeugen eines lebendigen und dynamischen Wachstums der Orthodoxie. Ebenso hat sich die jüdische Welt in den letzten Jahrzehnten vermehrt interaktiv vernetzt. Das zeigt sich etwa an der Zunahme von Aktivitäten im Internet und dem Rückgang an gedruckter Information. Lag die Macht weltweit früher bei der Industrie und der Kontrolle über natürliche Ressourcen, so hat sie sich dahin verschoben, riesige Informationsmengen  managen zu können. Und obwohl das jüdische Volk so klein ist und seine Möglichkeiten scheinbar marginal sind, spielen einige Juden in diesem Prozess eine wichtige Rolle.“

Michael Berenbaum ist nicht nur Chef-Redaktor der Neuausgabe der Encyclopedia Judaica, sondern auch Direktor des Sigi Zierung Institute: Exploring the Ethical and Religious Implications of the Holocaust und Professor für Jüdische Studien an der American Jewish University (ehemals: University of Judaism).

„Die neue Enzyklopädie zeigt in erster Linie, wie faszinierend die Juden als Volk sind“, stellt er fest. „Sie leisten einen Beitrag zu jedem Bereich menschlichen Wissens und sind in den Bereichen der Kunst, Musik und Architektur, der Wissenschaft und Medizin und so weiter engagiert. Die Juden fühlen sich heute fähiger, freier und besser in der Lage, in ihrer Identität als Juden kreativ zu werden. Sie fürchten nicht mehr, in ein intellektuelles oder kulturelles Ghetto verbannt zu werden.“

„Noch in der letzten Generation haben sich viele aus Furcht vor gesellschaftlicher Marginalisierung davor gefürchtet, etwa als jüdischer Autor bekannt zu sein. Heute gehen viele Juden viel offensiver mit ihrem Jüdischsein um. Ein interessantes Beispiel sind amerikanische Schriftstellerinnen, die ultra-orthodox leben oder aus einem ultra-orthodoxen Hintergrund kommen, wie Tova Mervis, Allegra Goodman, Pearl Abrahms und Rebecca Goldstein. Ihre Bücher sind eigentlich spannender als die vieler anderer; noch vor zehn Jahren war das nicht denkbar, es war unvorhersehbar.“

„Seit den 1970er Jahren haben sich einige Studiengebiete drastisch entwickelt, wie beispielsweise die Holocaust-Studien. In den 1970er wurden sie nur an zwei amerikanischen Universitäten gelehrt. Auch das Fach Hebräisches Recht und die Frauenforschung haben eine gewaltige Entwicklung genommen. Wir haben uns entschieden, letzterem in der Neuausgabe mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Schwierige Entscheidungen waren im Hinblick auf kontroverse Themen zu treffen, wie zur Frage, wer als Jude oder Jüdin zählt, zur israelischen Siedlerbewegung und zur Homosexualität.

Doch nicht nur das Wissen habe sich verändert, sagt Berenbaum. „Mein Kollege Skolnik, der an beiden Enzyklopädien mitgearbeitet hat, war überrascht von der Kluft zwischen den aussergewöhnlichen Leistungen des jüdischen Volkes in den letzten 35 Jahren einerseits und der aktuellen pessimistischen Stimmung auf der anderen Seite. 1972 – ein Jahr vor dem Yom-Kippur-Krieg – herrschte immer noch Euphorie angesichts der jüdischen Einheit. Wir wundern uns über die derzeitige Mischung von Gefühl der Gefährdung und der Ermächtigung und Leistung. Das können wohl nur Psychologen erklären.“

„Die Enzyklopädie von 1972 wurde in dem Geist grosser Zuversicht geschrieben, der Israel nach dem Sechs-Tage-Krieg charakterisierte. Sie wurde in Israel erarbeitet und war vermutlich die letzte und beste Bekundung deutsch-jüdischer Wissenschaft, die nach Israel abgewandert ist. Die Herausgeber der neuen Ausgabe befanden, dass es einen amerikanischen Redaktor brauche, da an dieser Stelle ein grösseres Gespür für die Wirklichkeit der Diaspora erforderlich wäre.“

„Die Neuausgabe wurde hauptsächlich von amerikanischen und israelischen Gelehrten verfasst. Fast alle amerikanischen Wissenschaftler haben in Israel studiert, und die israelischen Wissenschaftler beinahe alle in den USA, sie haben dort gearbeitet und gewiss veröffentlicht. So kennen die Autoren zu jedem Themenbereich die Werke des anderen, waren wechselseitig als Referenten bei Konferenzen tätig und haben an verschiedenen Universitäten gelehrt. Das führt zu grosser gegenseitiger Befruchtung.“

„Ausserdem ist  entscheidend, welchem Wissenschaftstyp man Vorrang einräumen möchte. Wir haben uns entschlossen, der historischen Perspektive nicht endgültige Deutungshoheit zu geben; einige unserer Autoren betrachten ihre Themen durch die Brille der Psychologie und Soziologie.“

„Da sind noch weitere Aspekte, die sich in den letzten 35 Jahren verändert haben. Als die erste Ausgabe der Encyclopedia Judaica herauskam, lebte nur ein kleiner Teil des jüdischen Volkes in Israel. In der Neuausgabe ist ein  ganzer Band mit 600.000 Wörtern Israel gewidmet!“

Berenbaum kommt zu dem Schluss, dass „die Strecke, die das jüdische Volk zurückgelegt hat, sowie die Eroberung so vieler Wissensgebiete staunen lässt – und demütig macht.“

Dr. Manfred Gerstenfeld ist Aufsichtsratsvorsitzender des Jerusalem Center for Public Affairs.