In einem schwierigen Land

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In Israels Nachbarschaft drängen Islamisten an die Macht, im Landesinnern gerät die Gesellschaft ins Wanken. Der jüdische Staat sieht sich in einer neuen Welt: Bericht einer Reise durch ein schwieriges Land.

Freunde, besorgt um den Ruf ihrer Heimat, hatten mich gewarnt. Doch der israelische Beamte, der mich vor dem Flug nach Tel Aviv befragte, ein schmächtiger Mann mit Krausbart, war nicht rüde. Ob ich meinen Koffer selber gepackt habe, wer dabei gewesen, wo und wann das geschehen sei, wollte er wissen. “Hat Ihnen jemand etwas mitgegeben?” fragte er dann, setzte nach, weshalb er mich das wohl frage, und quittierte meine Antwort, es könnte eine Bombe sein, mit einem befriedigten “Richtig”.

Israel ist ein bedrohtes Land. Bahnhöfe, Einkaufszentren und selbst manche Restaurants kann man nicht betreten ohne vorherige Inspektion mitgebrachter Taschen, und es gibt kaum einen Ort, wo man nicht junge Armeeangehörige sieht in ihren olivgrünen Uniformen, Männer mit umgehängten Uzis und Kippa, Frauen mit einer M 16, lackierten Fingernägeln und einem Plüschtier auf dem Rucksack.

Mit seinem Rossschwanz und der englischen Mütze hat Gershon Molad etwas von einem Bohemien. Wir sitzen im Elkally an der Basel Strasse, benannt nach dem ersten Zionistenkongress von 1897 im schweizerischen Basel, und trinken Cappuccino. Es ist ein schöner Spätsommermorgen, das Sonnenlicht spielt in den Blättern, Mütter füttern ihre Säuglinge, und Molad, ein 63jähriger klinischer Psychologe, zieht den Vorhang von der Idylle. Schildert, wie es ist, wenn die vier Ambulanzen der gegenüberliegenden Notfallstation losheulen, das Mobiltelefonnetz zusammenbricht, die Nachrichten Tote und Verletzte melden, und drei Tage später alles vergessen ist. Ein Bombenanschlag, einer von vielen, jederzeit kann es wieder passieren.

Molads Eltern waren 1934 aus Ostpolen nach Palästina eingewandert. Kennengelernt hatten sie sich in einem Kibbuz und ihre Eltern, Grosseltern und Geschwister herübergeholt, bevor es zu spät war. Der Holocaust hat seine Familie nicht betroffen, aber als Achtjähriger hat Gershon Bücher darüber gelesen, und der Tag, an dem ihn sein Vater aufgeregt anrief, kommt ihm vor wie gestern. Eichmann war geschnappt worden. Der Prozess wurde am Radio übertragen, Lautsprecher schallten in den Strassen, ein “Tsunami der Erinnerung” ging durch das Land.

Israel gäbe es nicht ohne den Holocaust. Der Traum der Zionisten, einen Staat für die Juden im Land zu schaffen, aus dem sie vor zweitausend Jahren von den Römern vetrieben worden waren, wurde mit dem Palästina-Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 und der im Jahr darauf erfolgten Gründung Israels Wirklichkeit. Nach den zwei Kriegen von 1948/49 und 1967, die beide seine Nachbarländer begannen und die mit Gebietseroberungen Israels endeten, ist die junge Nation heute die stärkste – und die einzig nukleare – Militärmacht im Nahen Osten.

Die Bedrohung ist geblieben. Sie kommt nicht nur von Staaten wie Iran, dessen Präsident Ahmadinejad Israel von der Landkarte getilgt sehen möchte, oder vom “arabischen Frühling”, der die Sicherheitslage des jüdischen Staates verschlechtert hat. Sie ist Teil des Alltags; der Städter, die mit Attentaten rechnen müssen, der Siedler, die in den besetzten Gebieten leben, der Eltern, deren Söhne und Töchter im Armeedienst sind. Dieser Stress, seit Jahrzehnten akkumuliert, sei lebensbedrohend, sagt Molad. Er selber habe jedesmal vor der Rückkehr von einer Fachkonferenz im Ausland eine Krise, frage sich, weshalb er diesen Irrsinn mitmache. “Niemand sollte hier leben”, meint er, und kann doch nicht anders.

Assaf Gavron

Am Abend zuvor hatte ich einen Schriftsteller getroffen, der es nicht so ernst sieht. Assaf Gavron ist 42, ein Multitalent mit einem Hang zur Schelmerei, der das Computerspiel “Peacemaker” entworfen und Israels “Nationale Fussballmannschaft der Dichter und Schreiber” gegründet hat. Bekanntgeworden ist er mit dem Roman “Ein schönes Attentat”, eine schwarze Komödie über Selbstmordanschläge.

“Jahrelang wurde uns gesagt, das einzige Problem sei die Sicherheit, der Konflikt mit den Palästinensern, die andauernde Bedrohung unserer Existenz”, sagt Assaf, der an den jüngsten Massenkundgebungen teilgenommen hat und mit seiner Band “The Mouth and Foot” in der Zeltstadt am Rothschild Boulevard aufgetreten ist. “Viele, die zum Schweigen gebracht wurden, haben nun ihre Stimme wiedergefunden”, meint er, und dass es wieder Hoffnung gebe, einen Sinn für Gemeinschaft in einer Sache, die für einmal nichts mit Krieg und Gewalt zu tun habe, dem Thema, das die Nation spaltet.

Assaf redet von der “Revolution vom 14. Juli”, im Jargon kurz “J14”. Was an jenem heissen Sommertag begann, die Proteste gegen die Preise für Hüttenkäse und Wohnraum, die Zeltstädte, die aus dem Boden schossen, die Demonstrationen, an denen Hunderttausende teilnahmen, war ein Novum für Israel. Jung und Alt, Studenten und Fabrikarbeiter waren vereint, doch die steigenden Lebenshaltungskosten, die mangelnde soziale Gerechtigkeit oder der Niedergang des Mittelstandes vermögen die Wucht der Bewegung nicht zu erklären, die eine 25jährige gewitzte Videocutterin namens Daphni Leef vom Zaun riss, als sie ein Zelt in Tel Avivs Luxusallee aufstellte, nachdem sie aus ihrer Wohnung geworfen worden war, und ihre Freunde via Facebook einlud, mitzumachen. “Es ist die Wiederkehr des Kibbuz”, sagt Gershon Molad, der sich mit Gavron einig ist, dass die Bedeutung der Bewegung weit über ihren Anlass hinausreicht.

Es braucht nicht viel historisches Bewusstsein, der Entsorgung von Israels Bedrohungsmentalität zu misstrauen, die sich die Jungen erhoffen. Das Land ist die Frucht der jahrhundertelangen Erfahrung eines Volkes im Exil, in Ländern, wo man es selten wollte, oft verfolgte und schliesslich vollständig zu massakrieren suchte. Die Juden können die Welt nicht sehen, wie die Welt sich selber sieht. Aussenstehenden fällt es leichter, sich in die betrogenen und ihres Bodens beraubten Palästinenser hineinzufühlen; jeder weiss, wie das ist, wenn einem etwas weggenommen wird. Wenige wissen, was es heisst, sich seines Lebens nie sicher sein zu können.

Peter Haffner

Mit freundlicher Genehmigung von Das Magazin.

Auszug aus der Reportage In einem schwierigen Land. Wohin steuertIsrael? Eine grosse Reportage zu einem grossen Thema. Von Peter Haffner. © Das Magazin No.6, 11.2. – 18.02.2012

1 Kommentar

  1. Israel ist wirklich das meschuggenste Land auf der Welt…
    …und trotzdem möchte ich nirgendwo anders leben.
    Seit wir vor fast vier Jahren Alija gemacht haben, bin ich durch alle Höhen und Tiefen von Frustration, Wut und Unverständnis gegangen. Und habe mich, vor allem im ersten Jahr, immer wieder gefragt: „Was mache ich hier eigentlich? Warum tue ich mir das an?“ In Europa hätte ich mich bequem im Sessel zurücklehnen können und mich mit den alltäglichen Luxusfragen beschäftigen können.
    Hier war alles anders! Wenn ich mich gegen irgendetwas auflehnte, wurde ich aufgefordert, doch wieder nach Europa zurück zu gehen. Die Antwort auf zahlreiche Fragen war stets:“ Na weil es so ist!“ Aufregen über verzogene kleine Kronprinzen und –prinzessinnen, bitte nein, in einigen Jahren sorgen sie für unsere Sicherheit.
    Heute freue ich mich, wenn ich in der Nacht die Flugzeuge höre und weiß, es sind die unseren. Ich überlasse müden Soldaten und Soldatinnen jederzeit den Sitzplatz im überfüllten Zug.
    Ich kann die „Jeckin“ in mir nicht leugnen, warum auch, ich bin Teil einer wunderbar heterogenen Gesellschaft, die unser Land so liebenswert macht. Und so spannend.
    Dass ich angekommen bin, wurde mir vor wenigen Tagen bewusst, als ich Freunde aus Europa in der Davids Zitadelle herumführte und ihnen unsere Geschichte erzählte, und dabei das sichere Gefühl hatte, es wird niemandem gelingen, uns unser Land, unsere Geschichte, unsere Wurzeln wegzunehmen.
    Das war einer der ganz großen Glücksmomente, einer, der mich bestärkt: das Land mag schwierig sein, aber es ist das unsere!

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