Befreite Zonen: Lektionen aus Bosnien für Syrien

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Humanitäre Rückzugsorte können gefährdeten Zivilisten nur bedingt Rückendeckung geben. Die Aufstände in Syrien haben ein kritisches Stadium erreicht und mit zunehmender Brutalität des Regimes „befreien“ zwar Deserteure des Militärs und örtliche Gruppierungen in einer Bürgerverteidigung Teile des Landes, können aber keine dauerhafte Sicherheit dieser gewährleisten. Aus dieser neuen Dynamik kann sich eine mögliche Gelegenheit für einen internationalen Einsatz in Syrien entwickeln, für den die Erfahrungen aus Bosnien in den 1990er Jahren eine Lehre sein können.

Die von der bosnischen Bürgerverteidigung befreiten Gebiete wurden von der internationalen Gemeinschaft als Rückzugsorte gekennzeichnet und man gelobte, sie gegen die jugoslawische Nationalarmee JNA und serbische Paramilitärs zu schützen. Doch überrollte die JNA einige dieser Gebiete, darunter 1995 Srebrenica, und tötete dabei viele Zivilisten. Solche Aktionen führten zu einem umfangreicheren internationalen Engagement in Bosnien. Letztendlich hat die NATO gegen die JNA eingegriffen, um ein Ende des Bosnienkrieges herbeizuführen.

Die „befreiten” Zonen in Syrien

Nach monatelangem Leiden als Folge der brutalen Niederschlagung durch das Regime, bewaffnen sich nun örtliche Bewohner, um friedliche Demonstranten zu verteidigen und schliessen sich der „Freien Syrischen Armee“ FSA an; einem losen Verbund von Deserteuren der syrischen Armee, die sich geweigert haben, auf Demonstranten zu schiessen. Gemeinsam „befreien“ die FSA Bataillone Zonen innerhalb des Landes,  können diese aber nicht dauerhaft absichern. Diese Operationen werden grösstenteils erst möglich durch in Syrien erbeutete Waffen aus Arsenalen des Regimes und teilweise eingeschmuggelten Waffen aus den benachbarten Ländern Libanon, Türkei, Irak und Jordanien.

Im verzweifelten Versuch seine Stärke zu demonstrieren, hat das Regime von Bashir al-Assad kürzlich einen Militärangriff gegen verschiedene Enklaven gestartet, die unter Kontrolle der FSA stehen, einschliesslich Stadtteilen im Osten von Damaskus und Gebieten im Homs; dabei ist die Zahl der Todesopfer auf Hunderte pro Tag angestiegen. Die Demonstranten gehen trotzdem weiter auf die Strassen. Nur wenig Zeichen deuten darauf hin, dass die internationale Gemeinschaft bereit ist für ein militärisches Eingreifen; und so könnte die „Sicherheitslösung“ des Regimes zu einem Hase-und-Igel-Spie werden, das die Zahl der Todesopfer rapide in Höhe treibt, und den bewaffnete Aufstand möglicherweise in einen Bürgerkrieg umschlagen lässt.

Vom Bosnienkrieg lernen

Ausgewiesene befreite Zonen als Rückzugsorte. In Bosnien waren die Zivilisten waffentechnisch der JNA und ihren Verbündeten unterlegen, die das Land nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens besetzt hatten. Muslimische Bosnier (Bosniaken) formten zivile Verteidigungseinheiten, die durch bosnische Deserteure der JNA Verstärkung erhielten, und Teile des Landes befreiten, wie z.B. Bihac im Westen Bosniens, die Hauptstadt Sarajevo und die Städte Zepa, Gorazde und Srebrenica. Nachdem Zivilisten in diesen Gebieten unter Beschuss der JNA gerieten, verabschiedete der UN-Sicherheitsrat am 15. Mai 1992 die Resolution 757 und forderte die JNA zur Entwaffnung auf. Wie bereits angemerkt werden heute zwar in Syrien Gebiete „befreit“,  doch ähnlich wie in Bosnien werden die Einheiten der Bürgerverteidigung der syrischen Armee aber unterlegen sein.

Keine Entsendung von Friedensmissionen ohne das Mandat, das Feuer erwidern zu dürfen. Der UN-Sicherheitsrat hat in seiner Resolution 819 vom 16. April 1993 befreite Zonen als Sicherheitszonen ausgewiesen, um dadurch die Gefahr, dass diese von der JNA überrollt werden, zu entschärfen. Zum Schutz der Enklave entsandte die UN eine kleine Friedensmission, die ihre Waffen nur zur Selbstverteidigung einsetzen durften. Daher war es nicht überraschend, dass die JNA die Friedensmission schnell überwältigte  und in drei Enklaven einfiel. Der schändlichste Vorfall ereignete sich 1995, als niederländische Blauhelme zusahen, wie serbische Paramilitärs und die JNA Srebrenica besetzten und über achttausend Einwohner der Stadt ermordeten. Dieser Vorfall  ist eine Lektion für Syrien: Eine geringe Anzahl leicht bewaffneter Blauhelme würde vermutlich eher zu Geiseln in den Händen des Assad Regimes, als das die als Beschützer der Sicherheitszonen agieren könnten.

Lufteinheiten zum Schutz der Enklaven und Aufrechterhaltung des humanitären Korridors. Letztendlich haben die von der internationalen Gemeinschaft ausgewiesenen Rückzugsorte zu positiven Ergebnissen geführt und den Weg für einen NATO-Militäreinsatz gegen die JNA geebnet, der den Bosnienkrieg 1995 beendete . In dieser Hinsicht hat die internationale Empörung über das Massaker in Srebrenica das Ihrige dazu beigetragen, öffentliche Unterstützung für einen Lufteinsatz zu gewinnen. Wenn Rückzugsorte in Syrien ausgerufen werden, sollte die internationale Gemeinschaft einen Lufteinsatz zu ihrem Schutz bedenken.

Nachbarstaaten und die internationalen Gemeinschaft

Türkei. Die Türkei stand mit ihrer Kritik an Assads Durchgreifen und der Brutalität des Regimes international vorderster Stelle, und hat eine anti-Assad Stimmung in der türkischen Gesellschaft geschaffen. Zudem scheint die Analogie Bosnien-Syrien bei türkischen Politikern ihre Wirkung zu zeigen, zumal die Türkei ein wichtiges Land bei einem internationalen Einsatz in Syrien wäre. Am 25. Januar sagte der türkische Aussenminister Ahmet Davutoglu,  Assad sei „statt wie [der pro-Reform Sowjetführer Michael] Gorbatschow zu werden, wie [der serbische Diktator Slobodan] Milosevic geworden“.

Falls die Kämpfe eskalieren und mehr Zivilisten sterben sollten, wird das NATO-Mitglied  Türkei irgendwann zum Punkt kommen, an dem es eventuell eine humanitäre Intervention in Syrien sowie die Ausweisung von Rückzugsorten unterstützt. Im Gegensatz zu den Geschehnissen in Bosnien wird Ankara jedoch versuchen, die internationale Intervention nicht als „Made by NATO“ erscheinen zu lassen. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Türkei im Nahen Osten ein neues Image aufgebaut und sich selbst den Titel einer Regionalmacht verliehen. Daher wird Ankara bestrebt sein, diese  neue Rolle bei jeder Intervention in Syrien aufrechtzuerhalten.

Jordanien und andere arabische Staaten. In Hinblick auf Logistik und Lieferung könnten die arabischen Länder bei der Schaffung und Unterstützung von Rückzugsorten in Syrien eine wichtige Rolle spielen. Benachbarte arabische Länder könnten insbesondere Überlandwege für den Transport von humanitären Hilfsgütern bereitstellen, die von ihren reichen Brüdern in den Golfstaaten bezahlt werden. Syrer, die für ihren panarabischen Stolz bekannt sind, würde diese Hilfe ausserordentlich schätzen.

Europa und die NATO. Diese zwei Grössen könnten entscheidende Unterstützung bereitstellen, beispielsweise strategische Aufklärung für Boden-Luft-Operationen, die der Unterstützung von sicheren Zonen dienen. Um während des Aufbaus der humanitären Intervention zugleich türkische Belange zu berücksichtigen, könnte ein türkischer General mit der Leitung der Operation vom NATO-Hauptquartier aus beauftragt werden. Ein erfolgreicher Präzedenzfall, bei dem ein türkischer General einen NATO-Einsatz in einem vorwiegend muslimischen Land leitete, findet sich in Afghanistan: Dort haben  türkische Kommandanten im vergangenen Jahrzehnt zahlreiche NATO-Einsätze befehligt.

Der Bosnienkrieg und der Konflikt in Syrien unterscheiden sich in ihrem Wesen. Doch während die internationale Gemeinschaft nach Wegen sucht, die Zahl der zivilen Opfer in Syrien gering zu halten und die Macht des Regimes lahmzulegen, kann die bosnische Erfahrung Gedankenanstösse für Syrien liefern. Eine gut konzipierte humanitäre Intervention in Syrien wird gefährdeten Zivilisten hoffentlich Schutz bieten, ohne am Ende eine Eskalation einzufordern.

Soner Cagaptay is director of the Turkish Research Program at The Washington Institute. Andrew J. Tabler is a Next Generation fellow in the Institute’s Program on Arab Politics and author of In the Lion’s Den: An Eyewitness Account of Washington’s Battle with Syria.

Originalversion: Humanitarian Safe Havens: Bosnia’s Lessons for Syria by Soner Cagaptay and Andrew J. Tabler © The Washington Institute for Near East Policy. PolicyWatch #1898, February 7, 2012. All rights reserved.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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