Tunesien: Islamisten übernehmen

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Tunisian President Zine El Abidine Ben Ali
© istockphoto.com/murat sarica

Nach der Jasmin-Revolution in Tunesien machen sich Salafisten, wie in Ägypten, die neuen Freiheiten zu Nutze: eine Bedrohung für die Entwicklung der Demokratie. Islamistische Gruppierungen haben grossen Zulauf und versuchen, aus Tunesien ein islamisches Emirat zu machen. Bisher konnten sie die grossen Städte noch nicht für sich einnehmen, doch sie erweitern ihren Einfluss auf die 5.000-Einwohner-Stadt Sejnane im Nordwesten des Landes. Tunesische Medien berichten, dass eine Gruppe von 250 Mann es geschafft hat, Sejnane zu „talibanisieren“, indem sie massive islamische Regeln eingeführt hat, ohne von den Sicherheitskräften des Landes auch nur unterbrochen zu werden.

Die Stadt Sejnane ist berühmt für ihre Keramikprodukte und unterscheidet sich mit seinen Cafés, kleinen Geschäften, einigen Moscheen und staubigen Strassen nicht von anderen tunesischen Städten. Allerdings leben 80 Prozent der Bevölkerung Sejnanes unterhalb der Armutsgrenze; die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 60 Prozent, und es gibt keine Anzeichen für eine Verbesserung der Lage. Das ist das Umfeld, in dem eine Gruppe meist junger Salafisten in den letzten Monaten islamisches Recht verhängt haben.

Banden junger Salafisten haben angefangen, Menschen zu terrorisieren – auf der Jagd nach „Ungläubigen“. Es gibt unzählige Berichte von Intoleranz und Gewalt – darunter der eines Mann, der nach dem Besuch einer Moschee zusammengeschlagen wurde, weil er behauptete, Tabak sein nicht haram (verboten); da ist ein anderer Mann, der am Bein verletzt wurde, weil er Zigaretten kaufte; einem Weinverkäufer wurden die Finger gebrochen; und ein junges Mädchen wurde in der Schule angegriffen, weil sie keinen Schleier trug.

Die Salafisten haben in Sejnane auch Scharia-Tribunale und sogar Gefängnisse eingerichtet; in ihnen haben sie Menschen gefoltert, die verhaftet wurden, weil sie das islamische Recht nicht „respektiert“ hätten. Es wird berichtet, dass Salafisten Personen verhaftet haben, weil sie Silvester feierten. Die Salafisten haben nicht nur den Verkauf von Alkohol, sondern auch von Kuchen an Silvester verboten – mit der Begründung, dies sei christliches Fest, das von wahren Muslime nicht gefeiert werden sollte.

In Sejnane gibt es sieben Moscheen; die wichtigste wird von einem jungen Imam geleitet. „Er ist ein Salafist“, sagt ein Bewohner von Sejnane den Medien, „er ist erst 22 und hat noch nicht mal die Schule beendet.“ – „Der Staat ist nicht da“, beklagt sich ein anderer Mann, „und die Salafisten haben die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und stossen in diese Lücke.“ Berichten zufolge ist der Chef der Salafisten-Gruppe in Sejnane ein alter Dschihadist, der Al-Qaida nahe steht. Er war des versuchten Staatstreiches 2006 beschuldigt und deshalb zu 104 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nach der Revolution wurde er jedoch im Rahmen einer Generalamnestie freigelassen.

Die Menschen in Sejnane fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen, da sie nichts zum Schutz ihrer persönlichen Freiheit unternimmt. Das neue Regime glänzt durch Abwesenheit und scheint nicht bereit, Massnahmen gegen die islamistische Gewalt zu ergreifen. Der Präsident der Tunesischen Liga für Menschenrechte (LTDH) Abdel Sattar Ben Moussa hat einen Bericht zur Situation in Sejnane vorgelegt: danach gibt es das Salafisten-Phänomen im ganzen Land, konnte sich in Sejnane aber deswegen stark ausbreiten, weil funktionierende Regierungseinrichtungen in der Region fehlen.

Einige Medien haben Sejnane als „das erste Emirat der Salafisten im Land” bezeichnet und bemerken, dass weitere Emirate in Tunesien gedeihen werden, wenn nichts unternommen würde. Liberale Journalisten wurden bereits angegriffen und niedergeschlagen, weil sie die Gewalt der Salafisten im Land angeprangerten. Der säkular-liberale Journalist Hamadi Dimassi, der von einem Islamisten angegriffen wurde, behauptet, es gebe eine stillschweigende Komplizenschaft der islamistischen Partei Ennahda mit den Salafisten; die Ennahda hat in Tunesiens verfassungsgebender Versammlung den grössten Stimmenanteil. Ein weiterer Journalist, Sofiene Ben Hamida, der ebenfalls kürzlich Opfer einer Schlägerei wurde, ist der Meinung, dass die Regierung keine ernstzunehmenden Massnahmen unternehmen wird, um den Salafisten Einhalt zu gebieten.

Führende Ennahda-Politiker haben zugegeben,  den salafistischen Tendenzen im Land Rückendeckung zu geben; sie behaupten, die Regierung sei nicht  „abwesend“, sondern einfach „vorsichtig“ im Hinblick auf Massnahmen, weil sie die Situation möglicherweise verschlimmern oder die Kluft zwischen den verschiedenen Parteien vertiefen könnten.

Derweil macht die „Vorsicht” der Ennahda die ursprünglich liberale und säkulare Revolution zu einer religiösen. Eine Krankenschwester aus Sejnane berichtet in den  Medien, ihre Heimatstadt gehöre den Salafisten, die das Gesetz dort machten.

Wenn die Regierung ihre Politik des Nicht-Eingreifens fortführt – wonach es aussieht –, wird sich die Bevölkerung davor fürchten, die Gewalt anzuprangern oder gar gegen sie zu rebellieren; das wiederum würde dazu führen, dass aus Land ein weiterer neuer islamistischer Staat wird.

 

Originalversion: Islamists Take Over Tunisia by Anna Mahjar-Barducci © Stonegate Institue, January 27, 2012