Sunniten gegen Schiiten: Ein neuer strategischer Konflikt

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Natürlich sind Konflikte zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen keineswegs grundsätzlich neu; neu aber ist, dass sie gegenwärtig auf regionaler Ebene auftreten. Solange die Regimes säkular waren und eine allumfassende arabisch-nationalistische Identität predigten, waren die Unterschiede zwischen den Religionsgemeinschaften zweitrangig. Wenn ein Regime islamistisch ist, steht die Theologie wieder im Mittelpunkt, wie vor Jahrhunderten.

Dabei sollte klar sein: es geht im Wesentlichen um politische Macht und Reichtum. Die sunnitischen und schiitischen Staaten oder Bewegungen agieren als politische Einheiten.

Dass Macht und Einfluss des islamistischen Regimes im Iran wachsen, stellt für die sunnitischen Islamisten der arabischen Welt ein gewaltiges Problem dar. Sie mochten den Iran grundsätzlich nicht, weil er persisch und schiitisch ist; doch er war die einzige islamistische Option. Und die arabisch-sunnitische islamistische Hamas wurde ein iranischer Klient. Der Erste Golfkrieg spiegelte diese Gegensätze wider, doch es gelang dem irakischen Regime, die schiitische Mehrheit im Land unter Kontrolle zu halten.

Der Sturz Saddam Husseins durch eine von den USA geführte internationale Intervention dann eröffnete die Frage nach den konfessionellen Verhältnissen in Irak. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse (3:1) würden die arabischen Schiiten unweigerlich jede Wahl gewinnen; Sunniten und Kurden optieren für eine Lösung, die, wenn auch nicht dem Namen nach, so im Endeffekt doch einen eigenen Staat im Norden bedeutet. Und trotz der terroristischen, antiamerikanischen und al-QaidaElemente des sunnitischen Aufstandes war dieser hauptsächlich ein letzter verzweifelter Versuch der Sunniten, die Macht zurückzuerobern. Er ist gescheitert; und während weiter Gewalt herrscht, wird das Hauptaugenmerkt der Sunniten darauf liegen, für die bestmögliche Verteilung beim Aushandeln der Macht zu achten.

In Libanon haben ebenfalls die Schiiten triumphiert, angeführt von der Hisbollah und unterstützt von Syrien und dem Iran. Das war der Auftakt für das Jahr 2011. Der „Arabische Frühling“ dann war eine überwiegend sunnitische Angelegenheit und gewissermassen ihre Gegenbewegung zur iranischen Revolution 1979. Nur in Bahrain, wo sie unterdrückt wurden, sind die Schiiten in die Offensive gegangen.

In Ägypten, Tunesien und Libyen hatten wir sunnitische Aufstände gegen sunnitisch-arabische Regierungen. Weitaus komplexer ist die Situation in Syrien mit seinem alawitischen nichtmuslimischen Regime, das schiitisch-muslimisch zu sein vorgibt, mit Iran verbündet ist und eine Vielzahl oppositioneller Gegner hat. Dennoch ist der Umbruch eine von Sunniten angeführte (auch wenn weit mehr als nur islamistische) Revolte gegen ein „schiitisches“ Regime.

Die Quintessenz daraus lautet: Sunnitisch-arabische Islamisten brauchen den Iran oder auch die Türkei nicht mehr, weil sie jetzt ihre eigene Macht haben. Wahrscheinlich wird wohl mindestens ein loser sunnitisch-arabischer und weitgehend islamistisch beeinflusster Block entstehen, der sich aus Ägypten, dem Gazastreifen, Libyen und Tunesien zusammensetzt, mit Elementen der Muslimbruderschaft in Jordanien und Syrien.

Die Muslimbruderschaft ist dabei zentral; sie ist eine Organisation, die schiitische Muslime im Allgemeinen und besonders diejenigen im Iran nicht leiden kann. Kleine Vorkommnisse wie die Unterstützung des Bruderschaftgurus Yusuf al-Qaradawi für das sunnitische Regime in Bahrain gegen die schiitische Opposition zeigen, in welche Richtung sie denkt. Die noch radikaleren Salafisten – der Begriff wird nun für die kleinen revolutionären Islamistengruppen verwendet – wenden sich noch deutlicher gegen die Schiiten. Dabei ist ein Faktor der kontinuierliche Unwille der Mehrheit der arabischen Staaten, den schiitisch regierten Irak in ihren Reihen zu begrüssen. Der Irak wird nicht zu einem Satelliten des Iran werden. Er fühlt sich zweifellos wohler in einem schiitischen Block, wird aber wahrscheinlich an regionalen Angelegenheiten weiterhin eher unbeteiligt bleiben.

Diese Situation lässt auch die Palästinensische Autonomiebehörde weitgehend allein zurück. Zwar kann sie sich auf allgemeine arabische, iranische und türkische Unterstützung verlassen kann, doch sie hat keinen regionalen Förderer, während die Hamas, die die nachhaltige Unterstützung der sunnitischen Islamisten geniesst. Dies fördert natürlich das Bündnis der Palästinensischen Autonomiebehörde (der Fatah) mit der Hamas, schwächst aber gleichzeitig ihren Einfluss gegenüber diesem islamistischen Partner. (Und es bedeutet, an Verhandlungen mit Israel anhaltend desinteressiert zu sein und schon gar nicht eine ausgehandelte Lösung mit dem Land erreichen zu wollen.)

Damit war 2011 entgegen dem Anschein eine Niederlage für den Iran und die Türkei, weil sunnitisch-arabische Islamisten weit weniger empfänglich für Teherans Einfluss sind und im Iran einen Rivalen sehen, während arabische Islamisten genauso wenig eine Führung der Türkei wollen.

Können sich diese Blöcke effektiv gegen die USA, den Westen oder Israel zusammentun? Nein. Ihre Machtkämpfe um regionale Macht und die Kontrolle einzelner Staaten (Bahrain, Libanon, Syrien und in weit geringerem Masse Irak) wird den Konflikt andauern lassen. Auch der anti-israelische Konsens wird jeweils für die eigenen Interessen auszunutzen versucht.

Aus dem gleichen Grund jedoch ist die Hoffnung auf Mässigung minimal. Wo Regimes und Bewegungen im Wettbewerb stehen, um ihre Fähigkeit zum Kampf und ihre Loyalität gegenüber einer radikalen Interpretation des Islam zu beweisen, wird niemand mit Israel Frieden schliessen wollen. Und die Regimes werden nur dann mit den USA zusammenarbeiten wollen, wenn sie spüren, dass Amerika sie beschützen kann und wird; das ist eine eher vergebliche Hoffnung angesichts einer Regierung Obamas, die es darauf anlegt, mit Islamisten Freundschaft zu schliessen.

Ein weiterer Aspekt dieser Rivalität zwischen Sunniten und Schiiten, der Blockbildung, des militärischen Wettstreits und des Kampfes um die Kontrolle einzelner Staaten: Leben, Zeit und Ressourcen werden aufs Spiel gesetzt und in politischen Auseinandersetzungen verschwendet werden, solange, auch nach dem Ende der alten Regimes, Ideologie und Macht regieren anstelle von Pragmatismus und wirtschaftlicher Produktivität.

Dieser Artikel wurde in einer anderen Version in der Jerusalem Post veröffentlicht.

Originalversion: Sunni Versus Shia: The Middle East’s New Strategic Conflict by Barry Rubin © GLORIA Center, January 5, 2012.