Die Eurokrise, die Juden und Israel

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Als Ende November öffentlich bekannt wurde, dass sich die britische Regierung mit Notfallmassnahmen auf den Kursverfall des Euro vorbereitet, war man schockiert. [1] Der Gouverneur der Bank von England, Sir Mervyn King, erklärte darüber hinaus, dass seine Mitarbeiter sich auf den schlimmsten Fall in der Eurozone vorbereiten. [2] Vor einigen Tagen wurde bekannt, dass die irische Zentralbank über Druckkapazitäten nachdachte für den Fall, dass der Euro durch eine Nationalwährung zu ersetzen sei. Diese Nachrichten werfen nur Schlaglichter auf das grosse Überlebensproblem des Euro. [3]

Vor ihrem Hintergrund sollten einige Fragen zu den wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der aktuellen Finanzkrise in westlichen Gesellschaften gestellt werden; sie sind auch für Israel und die jüdischen Gemeinden im Ausland von grosser Wichtigkeit.

Eine Durchschnittsbewertung erwartet für die kommenden Jahre überhaupt nur wenig Wirtschaftswachstum in der westlichen Welt. Einige Konjunkturbeobachter behaupten sogar, dass sich eine Wirtschaftsstagnation durch das ganze nächste Jahrzehnt ziehen wird. [4] Radikalere Stimmen reden dagegen von einer länger andauernden Rezession oder sogar Depression. Am Beispiel Griechenland ist zu sehen, was Wirtschaftsschwund für eine Gesellschaft bedeuten kann; in den letzten zwei Jahren ist die griechische Wirtschaft um zehn Prozent geschrumpft.

Solche Prognosen lassen vermuten, dass zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg eine Generation heranwächst, der es wahrscheinlich nicht besser gehen wird als ihren Eltern. Dennoch nehmen viele im Westen und besonders in Europa die Haltung ein, die Regierung oder die Gesellschaft schulde ihnen eine Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen im Vergleich zu den Eltern.

Ob nun der Euro gerettet wird oder nicht, ohne wirtschaftliches Wachstum werden die Gesellschaften zunehmende soziale Spannungen erleben. Heute nehmen wir nur erste Hinweise auf die Zukunft wahr; wenn die Arbeitslosigkeit ansteigt, können die Strassenschlachten gegen die Polizei in Athen und die heftigen Unruhen in London und anderen britischen Städten im August 2011 als frühe, sehr extreme Zeichen gedeutet werden.

Auch politisch werden sich grössere Spannungen entwickeln – die verschiedenen „Occupy“-Bewegungen sind ein Hinweis dafür. Rufe nach Umverteilung des Reichtums in der Gesellschaft und einer höheren Besteuerung der Reichen und Versuche zur Umstrukturierung des Bankensystems werden aufkommen. Anders gesagt: einige werden versuchen, das grösste Stück des Wirtschaftskuchens zu ergattern, statt es mit Arbeiten zum Wachsen zu bringen. Solche Bewegungen könnten ein weiteres Schrumpfen der Wirtschaft begünstigen und soziale Spannungen und mehr extreme Politiker nach vorne bringen.

Das alles sind nur Anzeichen; noch ist es zu früh, um die verschiedenen Konsequenzen zunehmender wirtschaftlicher und sozialer Unruhen in der westlichen Welt für Israel und die jüdischen Gemeinden im Detail abzusehen. Ein Zeichen ist sicherlich, dass die „Occupy“-Bewegung bereits Personen angezogen hat, die antisemitisch oder antiisraelisch eingestellt sind. [5] Sie werden weiterhin Gelegenheiten nutzen, um ihre Hassbotschaften zu verbreiten.

Traditionell ist es so, dass in Zeiten des Friedens und wirtschaftlichen Wachstums jüdische Gemeinden aufblühen konnten. In solchen Zeiten konnten Menschen ihre Talente und Fähigkeiten gut einsetzen. Jüdische kulturelle Tradition und die Lehren, die man aus den vergangenen Verfolgungen gezogen hat, brachten einer bedeutenden Anzahl von Juden Wettbewerbsvorteile anderen Gesellschaftsgruppen gegenüber ein.

Antisemiten und andere, die Hass stiften, nutzen Unruhen aus, um für die Missstände in der Gesellschaft Sündenböcke verantwortlich machen. Auch werden die  Aussagen von Judenhassern in solchen Situationen noch extremer. Kürzlich erst meinte Hugo Deckers, Generalsekretär der belgischen sozialistischen Gewerkschaft für den Bildungsbereich, die jüdische Schule in Antwerpen warnen zu müssen – er könne ihr als Reaktion auf Israels Vorgehen gegen die Palästinenser Probleme bereiten. [6]

Und der ehemalige flämische, pro-palästinensische Politiker Bas Luyten schien sehr zufrieden, als ein dreizehnjähriges jüdisches Schulmädchen von ihrem muslimischen Klassenkameraden verprügelt wurde. [7] Vor einigen Tagen entfernte die Website der grössten flämischen Partei NVA alle Textbeiträge von Luytens; er war im letzten Jahr aus der Partei ausgeschlossen worden.

Die Unruhen in grossen Teilen der arabischen Welt sind eine Beigabe zu den Wirtschaftsproblemen der westlichen Gesellschaften. Die Feinde Israels werden ihre Anschuldigungen gegen Israel ausweiten und den gesellschaftlichen Zerfall in Europa für sich nutzen. Vornehmlich aus der europäischen Linken werden viele die Araber auf Kosten Israels beschwichtigen. Israel muss sich so schnell wie möglich auf diese möglichen Entwicklungen vorbereiten.

Die Stagnation der Wirtschaft hat für israelische Exporteure die Konsequenz, ihre Produkte im Ausland schwerer verkaufen zu können  – auch das israelische Wirtschaftswachstum wird darum nachlassen. Ferner ist zu beachten, dass viele israelische Kultur- und Wohltätigkeitsaktivitäten von Spendengeldern aus dem Ausland  abhängig sind. Sehr wahrscheinlich werden auch diese ihre Aktivitäten zurückfahren müssen.

Noch ein weiterer Aspekt ist aus israelischer Sicht zu beachten; in den vergangenen Monaten hegten viele Israelis die Illusion, man könne durch Umstrukturierung der Wirtschaft einen Sozialstaat erreichen. Dies ist in der gegenwärtigen Situation Israels völlig unrealistisch; die israelische Regierung hat sich diesen Forderung bisher vollständig widersetzen können.

Eine klare Botschaft gibt es in dieser schwer durchschaubaren Situation sowohl für die israelische Regierung als auch für die Spieler aus Wirtschaft und Gesellschaft: die globalen Entwicklungen sehr genau zu beobachten und zu überlegen, wie die absehbaren Konsequenzen abgeschwächt werden können.

 

Dr. Manfred Gerstenfeld ist Vorsitzender des Aufsichtsrates des Jerusalem Center for Public Affairs.


[1] James Kirkup, “Prepare for Riots in Euro Collapse, Foreign Office Warns,” The Telegraph, 25 November 2011.

[2] Hugo Duncan and Rob Cooper, “Financial system in ‘crisis’ warns Mervyn King as he plans for break-up of eurozone and tells banks to slash staff bonuses,” Mail Online, 1 December 2011.

[3] “Zentralbanken spielen ein Leben ohne Euro durch,” Die Welt 8 December 2011. [German]

[4] James Kirkup, “Autumn Statement 2011: fears of a ‘lost decade’ as living standards fall, The Telegraph, 30 November 2011.

[5] Helen Chernikoff, “Occupy Judaism Hoping To Put Anti-Semitism Claims To Rest.” Jewish Week

15 November 2011

[6] “ACOD topman bedreigt Joodse scholen omwille van stappen Israëlische regering,” Joods Actueel, 3 November 2011. [Dutch]

[7] http://brabosh.com/2011/11/25/pqpct-ev8/ [Dutch]