Globalisierter Antisemitismus

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Robert Wistrich

In der postmodernen Welt entwickelte sich der Antisemitismus so wie viele andere Phänomene – er wurde globalisiert und zersplitterte stark. Die Ausdrucksformen dieses uralten Hasses verändern sich ständig. All dies erschwert es, das Thema intellektuell angemessen zu erfassen.

Robert Wistrichs neuestes Buch A Lethal Obsession gibt eine meisterhafte Übersicht darüber, wie der Antisemitismus in den letzten Jahrzehnten globalisiert wurde. Das Buch trägt den Untertitel Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad. Dieser weist zu Recht darauf hin, dass gegenwärtig die mit Abstand grösste Gefahr für das jüdische Volk und Israel von der muslimischen Welt ausgeht. Gewisse Teile dieser Bedrohung bedeuten unter Umständen Völkermord.

Wistrich hält den Neuberger Lehrstuhl für moderne europäische und jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität (Jerusalem). Seit 2002 leitet er auch das Vidal Sassoon International Center for the Study of Anti-Semitism.

Während sich der Antisemitismus im letzten Jahrzehnt stark ausgeweitet hat –  dies nicht nur in seiner antiisraelischen Form –, konnte die Wissenschaft damit nicht Schritt halten. Es gibt nur sehr wenige Hochschulzentren für Antisemitismusforschung. Der Grossteil der wissenschaftlichen Anstrengungen wird in die Geschichte des Antisemitismus investiert. Einige Antisemitismusforscher haben sich sogar zu trojanischen Pferden gewandelt. Sie verkünden den Kampf gegen Islamophobie und verbreiten den Eindruck, diese sei ein wichtigeres Phänomen als Antisemitismus. Das ist vollkommen falsch. Es ermöglicht ihnen jedoch angenehmerweise, den weit verbreiteten Antiisraelismus und Antisemitismus in muslimischen Gesellschaften schönzureden oder gar gänzlich zu ignorieren.

Durch die schnelle Entwicklung und Veränderung des Antisemitismus gibt es bereits viele neue Ereignisse und Vorfälle, die in einer aktualisierten Ausgabe diskutiert werden sollten. Zum Beispiel müsste einfliessen, wie die schwedische Stadt Malmö unter ihrem teilzeitlich antisemitischen und vollzeitlich sozialdemokratischen Bürgermeister Ilmar Reepalu ihr Image als Europas Hauptstadt des Antisemitismus erlangte. Ausserdem müssten auch die grössten antisemitischen Ausschreitungen der norwegischen Geschichte in Oslo im Jahr 2009 sowie viele andere neuere Entwicklungen beleuchtet werden.

Um ein so umfassendes Werk zu rezensieren, untersucht man am besten, wie Wistrich den Hauptträger des zeitgenössischen Antisemitismus behandelt, nämlich den islamischen Antisemitismus.

Schon früh (S. 71) zitiert Wistrich zustimmend Samuel Huntingtons Aussage, dass Muslime „viel stärker in gruppenübergreifende Tätlichkeiten verwickelt sind als Menschen anderer Kulturen.“ Wistrich merkt an, dass „Kriege zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen sowie Konflikte innerhalb der islamischen Welt während der letzten Jahrzehnte viel zahlreicher waren als in anderen Kulturen.“ Er widmet nicht nur die letzten sechs Kapitel seines Buches Themen, die hauptsächlich Muslime betreffen, sondern erwähnt sie auch oft an anderen Stellen.

Wistrich hat bereits früher eine Monografie über den österreichisch- jüdischen Kanzler der Nachkriegszeit, Bruno Kreisky, veröffentlicht. In A Lethal Obsession entlarvt er die Ambivalenz dieses Sozialdemokraten in Bezug auf die „Judenfrage“ (S. 221). Vier der elf von Kreisky ernannten Minister in seinem ersten Kabinett waren ehemalige Nazis. Er schmähte Simon Wiesenthal und nannte ihn in einer niederländischen Wochenzeitung sogar einen „jüdischen Faschisten“ (S. 221-223).

Ein Kapitel trägt den Titel „Jews against Zion.“ Wistrich fasst darin die Geschichte der jüdischen Selbsthasser zusammen, angefangen bei den Apostaten im christlichen Spanien nach dem Massaker an den Juden im Jahre 1391. Er bezieht sich auf eine Aussage, die bereits der Wiener Dramatiker der Jahrhundertwende, Arthur Schnitzler, zitierte: „Antisemitismus hatte keinen Erfolg, bevor die Juden ihn zu fördern begannen.“ Er erwähnt die bekanntesten jüdischen Selbsthasser des 20. Jahrhunderts: Otto Weininger, Karl Kraus und viele jüdische Sozialistenführer in Österreich. Wistrich erwähnt auch deutsch-jüdische Selbsthasser, die jüdischen Kanaaniter in Palästina vor der israelischen Staatsgründung, die jüdischen Trotzkisten sowie Maxime Rodenson.

Er weist darauf hin, dass George Steiner – obwohl kein Selbsthasser – eine Meinung über die Juden hatte, die „einige altbekannte christliche Archetypen der Juden im Exil widerspiegelt (ihres Landes und ihrer Souveränität beraubt – durch ihre Verstocktheit dazu verurteilt, rastlos durch die Welt zu wandern)“. Weitere Beispiele, die der Autor in einige der  Kategorien von Selbsthassern, Antisemiten und antiisraelisch Eingestellten einreiht, sind Noam Chomsky, Norman Finkelstein, der kanadische Akademiker Michael Neumann sowie die Israelis Avraham Burg und Ilan Pappe. Wistrich schliesst daraus richtigerweise, dass „sich selbst hassende Juden, was auch immer die Motive für den Verrat an ihrem eigenen Volk und die Negierung dessen Geschichte seien, den Antisemiten über Jahrhunderte hinweg wertvolle Munition geliefert haben. Dies ist im Endeffekt immer noch so“ (S. 515-542).

Wistrich behandelt viele andere wichtige Themen ebenso gut. Trotzdem ist es bedauerlich, dass der französische Gelehrte Leon Poliakov, der wichtige Grundlagen für den Wissenschaftsbereich Antisemitismusforschung festlegte, vom Autor nicht berücksichtigt wird.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses Buch zurzeit die aktuellste und wichtigste Übersicht über den globalen Antisemitismus darstellt. Für Studenten dieser Fachrichtung sowie für interessierte Laien ist A Lethal Obsession ein Muss.

Robert S. Wistrich, A Lethal Obsession (New York: Random House 2010) 1,184 Seiten.

Dr. Manfred Gerstenfeld ist Vorstandsvorsitzender des Jerusalem Center for Public Affairs

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