Juden in Italien unter Berlusconi

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Dan Vittorio Segre

„Italien hat ungefähr sechzig Millionen Einwohner. Wenn man gebildete Italiener fragt, wie viele Juden im Land leben, erhält man als häufigste Antwort ‘eine halbe Millionen’. In Wirklichkeit beläuft sich die Anzahl der zahlenden Mitglieder der  jüdischen Gemeinden in Italien auf 31.000, oder anders gesagt kommen Fünf auf Zehntausend Italiener. Doch wahrscheinlich gibt es einige Tausend Juden mehr, die aber öffentlich als solche nicht erkennbar sind; zuverlässige Schätzung gibt es nicht. Ferner sagen viele kultivierte, gebildete oder einfach wohlsituierte Italiener über sich, dass sie teilweise jüdischer Herkunft sind.

“Die zwei grössten jüdischen Gemeinden in Italien befinden sich in Rom mit 12.000 eingetragenen jüdischen Mitgliedern und Mailand mit 6.000 und einigen Tausend unregistrierten. Es gibt wahrscheinlich nicht mehr als 15.000 gebürtige italienische Juden. In Rom ist eine beachtliche libysche jüdische Gemeinde entstanden. In Mailand haben iranische und libanesische Juden soziale Zentren aufgebaut, um Ehen innerhalb ihrer Gemeinden zu begünstigen. Jüdische Einwanderer aus Ägypten, Marokko, Gibraltar und Deutschland wie auch in kleineren Zahlen Israelis verteilen sich auf die verschiedenen Gemeinden.“

Dan Vittorio Segre war Professor für Politikwissenschaften an verschiedenen Universitäten, u.a. der University of Haifa, MIT, Stanford und bis vor Kurzem an der Universität Lugano. Neben seiner akademischen Laufbahn war er gleichzeitig viele Jahrzehnte im Journalismus tätig. Sein Buch Memoirs of a Fortunate Jew ist ein internationaler Beststeller.

“Die falsche Wahrnehmung, dass so viele Juden in Italien leben, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass sie als so bedeutend angesehen werden. Im letzten Jahrhundert hatten tatsächlich einige Juden Schlüsselpositionen innerhalb der italienischen Gesellschaft inne, “  merkt Segre an.

“Nach dem Zweiten Weltkrieg hielten sich italienische Juden aus vielen Gebieten raus, in denen sie in der Vergangenheit aktiv teilgenommen hatten wie etwa Politik und das Militär. Dennoch gab es einige jüdische Politiker in der kommunistischen und sozialistischen Partei.

„In den letzten Jahrzehnten haben italienische Juden ausserordentlich zur Wissenschaft beigetragen. Einmal waren vier von sechs italienischen Nobelpreisgewinnern Juden. Alle sind jedoch nach den Rassengesetzen in die USA ausgewandert.

“Unter der Regierung Berlusconi hat sich die Stellung Israels in Italien radikal von der in anderen europäischen Ländern unterschieden. Für sie war Israel kein problematisches Land. Berlusconi und seine Unterstützer sind pro-israelisch und sagen dies auch deutlich, auch in den Foren der Europäischen Union. In den Wahlen 2008 wurde die jüdische Journalistin und Schriftstellerin Fiamma Nirenstein Parlamentsabgeordnete in Berlusconis Partei Popolo della Libertà. Sie ist Vizepräsidentin der parlamentarischen Kommission für auswärtige Angelegenheiten. Nirenstein war sehr sichtbar, beispielsweise in der Organisation von pro-israelischen Aktivitäten.

„Während der Gaza-Operation 2008/2009 gab es in einigen italienischen Städten anti-Israel Demonstrationen. Die eindrucksvollste pro-Israel Kundgebung in Europa jedoch fand am 14. Januar 2009 in Rom statt, an der mehr als hundert Parlamentarier verschiedener Parteien teilnahmen. [1] Die Initiative für diese Kundgebung ging von Nirenstein aus. Später griff sie auch den schwedischen Aussenminister Carl Bildt an, als dieser sich weigerte, antisemitische Artikel in der schwedischen anti-israelischen Tageszeitung Aftonbladet zu verurteilen.

„Die politische Unterstützung der Regierungen unter Berlusconi für Israel und andere günstige Faktoren haben der jüdischen Gemeinde Italiens neues Selbstvertrauen gegeben. Es gibt einige andere beachtliche Hinweise. In Italien muss sich der Steuerzahler entscheiden, einen Beitrag in Höhe von 0.8 Prozent seines Steuervermögens entweder an eine religiöse oder andere anerkannte Organisation zu leisten. 2008 beispielsweise haben 61.000 Italiener diesen Beitrag der jüdischen Gemeinde zugeteilt, was bei weitem die Anzahl der jüdischen Familien in Italien übersteigt; das ist ein Zeichen der Sympathie der nicht-jüdischen Italiener.

“Dieser plötzliche Wiederaufstieg des italienischen Judentumes aufgrund von Entwicklungen, die mit ihnen in diesem Land nicht im Zusammenhang stehen,  hat italienische Juden stolz auf ihre Identität gemacht. Nunmehr äussert die jüdische Gemeinde Italiens ihre Meinung zu vielen Themen. Renzo Gattegna, Vorsitzender der italienischen Vereinigung jüdischer Gemeinden, wird oftmals angefragt, verschiedene Themen wie z.B. Mischehen, medizinische Verwendung von Embryonen, oder 2009 die Schweizer Minarett-Initiative zu kommentieren. Die Situation seines Vorgängers war noch sehr anders, als Juden sich mit einem politische Trend in Linie gebracht oder lieber keine Stellung bezogen haben.“

„Chabad ist sehr aktiv und spielt auch eine bedeutende Rolle in der Öffentlichkeit zu Chanukah; dann wird auf der Piazza Barberini am Fusse der wohl bekanntesten Strasse Roms, der Via Veneto, eine riesige Menorah aufgebaut und in einer öffentlichen Zeremonie jede Nacht während des Fests ein Licht angezündet. Eine neue Synagoge – die sechzehnte im Gebiet von Rom – wurde im Stadtteil Ostia eingeweiht, wo es nun eine kleine jüdische Gemeinde gibt. In dieser ehemaligen römischen Hafenstadt stehen auch die Ruinen einer zweitausend Jahre alten Synagoge.

“All dies widerspiegelt sowohl eine jüdische Lebendigkeit, die vor einigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre, als auch eine positive Wahrnehmung der Juden durch die  Gesellschaft im Allgemeinen.“

Dr. Manfred Gerstenfeld hat zwanzig Bücher veröffentlicht. Davon einige zum Thema Antisemitismus und Antiisraelismus.

 


[1] “Una piazza che no ci saremmo aspettati,” www.fiammanirenstein.com/articoli.asp?Categoria=11&Id=2085. [Italian]