"Hamas vertritt nicht die Mehrheit"

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Ibrahim Khraishi in Bern

Diese Woche wurde Palästina in die UNESCO aufgenommen; nach palästinensischen Aussagen das erste von vielen internationalen Gremien. Ob dies die Lösung des Nahostkonfliktes einen Schritt näher bringt oder bloss weitere Probleme verursacht, wird sich zeigen. Bereits Mitte September hat sich Audiatur-Online mit Ibrahim Khraishi, ständiger Vertreter der PLO an der UNO und Generaldelegierter Palästinas in der Schweiz, getroffen und mit ihm über das Verhältnis zu Israel, die Probleme mit der Hamas und das Wesen des zukünftigen Staates Palästina gesprochen.

Wie wird das Rechtssystem des palästinensischen Staates aussehen, wird es eine neue Verfassung geben?

Mit Gründung der PLO haben wir angefangen, die Grundlage unserer Rechtsstruktur- und Institutionen zu schaffen. Wir haben Ministerien, darunter seit 1994 das Justizministerium. Wir sehen einer zivilen, modernen Verfassung entgegen und versuchen, von internationalen Rechtsexperten zu profitieren. Der palästinensische Staat befindet sich im Aufbau, aber wir werden das Beste auswählen und von den Erfahrungen anderer zu profitieren. Das Gesetz ist für alle Palästinenser, ob Muslime, Christen oder Juden. Das Zivil- und Familienstandsgesetz wird entsprechend unserer Bedürfnisse entwickelt. Palästinenser sind Palästinenser als Bürger; wir konzentrieren uns nicht darauf, welche Religion oder sexuelle Orientierung sie haben, sie können sich als Palästinenser fühlen. Diese Themen sind zurzeit nicht unser Fokus, weil uns die Besatzung keine Zeit dazu lässt. Vielleicht werden sie aber in Zukunft zu heissen Themen.

Werden Vertreter anderer Religionen Mitglied der Regierung sein?

Die Mehrheit sind Muslime. Es gibt aber auch Parteien mit christlichen und jüdischen Kandidaten. Aktuell gibt es fünf Christen aus Jerusalem, Ramallah, Städte mit christlicher Bevölkerung und einen Juden aus Nablus, ein Samaritaner. Wir arbeiten an einem moderaten, modernen Staat. Die Erfahrung der Besatzung, der Unterdrückung, der Aufhetzung, der Schikane unter der wir tagtäglich leben, hat unseren Geist für verschiedene Ansichten geöffnet.

Nimmt sich Palästina an einem bestimmten Land ein Beispiel?

Wir nehmen von verschiedenen Ländern das auf, was auf unser Modell anwendbar ist. Wir sind ein multi-politisches System, was man in keinem anderen arabischen Land so vorfindet. Fatah ist eine säkulare Organisation, die alle Palästinenser begrüsst, sich der Fatah anzuschliessen. Sie gibt den Palästinensern eine Plattform, um politische, edukative und finanzielle Ansichten zu debattieren.

Wie passt der Säkularismus der PLO zur Scharia, die ja im Entwurf der Verfassung als Grundrecht des Rechtssystems angegeben ist?

Die Mehrheit der Palästinenser akzeptiert nicht, dass muslimisches Recht in Palästina die Führung übernehmen soll, wie es die Hamas in Anspruch nimmt. Scharia ist eine [Rechts]Hauptquelle, aber nicht die einzige. Andere Quellen werden ebenso berücksichtigt, so dass sich die Tür zur Entwicklung für unsere Gesellschaft öffnet. Die Todesstrafe soll gänzlich in Palästina abgeschafft werden, damit werden wir das erste arabische Land sein.

Die PLO ist säkular, weil Palästina das Land der Juden, Muslime und der Christen ist. Bevor es Israel gab, lebten alle in Frieden, ohne Schwierigkeiten. Der sicherste Ort für Juden war in Palästina. Nachdem es nun Israel gibt, wurde es zum Konflikt. In Palästina gibt es keinen Konflikt zwischen Muslimen und Christen.

Wir haben einige extremistische Gruppen, Unterstützer der Hamas, aber wir bekämpfen sie, weil es nicht gut ist für unsere Entwicklung und unseren Ansatz für die Zukunft. Sie werden keinen grossen Einfluss haben, weil Extremisten keine Wurzeln in Palästina haben. Einige von ihnen nutzen die Besatzung, um ihre Sache zu verteidigen, aber sie werden keinen Erfolg haben.

Sehen Sie Probleme vis- à- vis Gaza und einem unterschiedlichen Wertesystem?

Nach der Abspaltung vom Gaza, nach dem Hamas-Coup, waren wir mit Schwierigkeiten konfrontiert, aber wir werden das demokratisch lösen. Wir befinden uns in einer Versöhnung mit Hamas. Das Problem ist vielmehr, die Grundlage für die Versöhnung zu schaffen und eine Einheitsregierung zu formieren auf einer klaren Grundlage und das demokratisch durch Wahlen zu reflektieren. Wer wird die Mehrheit erhalten? Hamas wird sie nicht erhalten, sie haben sie einmal erhalten, es war unser Fehler, ihr Fehler, das Fehler des Systems.

Hamas vertritt nicht die Mehrheit. Zwei Drittel der Palästinenser sind keine Hamas-Unterstützer oder religiöse Unterstützer, sie gehören der Fatah Volksfront, Demokraten oder Kommunisten oder anderen an. Sogar die Grünen sind jetzt stark im Westjordanland. Das ist die Mischung in Palästina. Es wird sehr schwierig werden für die Hamas. Ihre Einschränkungen im Gaza sind nicht die Hürden in unserem Prozess und Entwicklung. Wir wollen kein Ende der Besatzung, um sie mit einer neuen durch neue Regeln zu ersetzen. Dagegen erheben wir Einspruch! Wir suchen echte Freiheit, soziale Gerechtigkeit und unsere Gesellschaft zu entwickeln.

Das Problem aber ist doch, dass sich Hamas in Gaza an der Macht befindet. Wie werden Sie mir ihr verfahren?

Was die Hamas getan hat, ist nicht akzeptabel, es funktioniert nicht. Ohne Versöhnung zwischen den Palästinensern und Einheit zwischen dem Westjordanland und Gaza gibt es keinen Staat. Der einzige Weg sind Wahlen. Diese extremistischen Gruppen wollen Demokratie und Wahlen nur, um damit an die Macht zu kommen und diese dann nicht mehr aus der Hand zu geben. Regionale Spieler wie der Iran, nutzen die Hamas aus, um jeglichen Prozess zu verhindern und ihre Interessen vis-à-vis die internationale Gemeinschaft zu erreichen. In einer Diskussion mit einem Hamas-Gesandten in Genf war die einzige Bedingung für die Versöhnung, dass Wahlen innerhalb von drei Monaten gehalten werden wollten, was sie aber nicht akzeptiert haben. Für uns gibt es keine Versöhnung ohne Wahlen. Lasst das Volk wählen, wenn die Palästinenser sich entscheiden, Hamas zu wählen, werden wir uns nicht dagegenstellen.

Palästina sollte zudem zurückkehren, was es früher einmal war; das Licht des Nahen Ostens war nicht der Libanon, es war Palästina vor Israel, vor der Besatzung.

Die Bemühungen und harte Arbeit von Ministerpräsident Salam Fayyad zur Umsetzung dieser Staatsvision sind nicht sehr bekannt.

Der Präsident und der Ministerpräsident sind in völliger Übereinstimmung. Dr. Salam Fayyad ist der Motor, es ist ein Macher. Die Situation hat sich in den letzten fünf Jahren vollständig verändert. Rechtsstaatlichkeit ist unser Ziel. Jedes Ministerium verfügt über eine Rechtsabteilung. Der Ministerpräsident nimmt das auf seine Schultern. Mit einem anderen Präsidenten hätte er diesen Fortschritt vielleicht nicht gemacht. Die gute Beziehung und das moderate Denken von Präsident Abbas und Ministerpräsident Dr. Fayyad haben die letzten fünf Jahre zu einer völlig anderen Geschichte gemacht als es die vorherigen fünfzehn Jahre waren. Die Menschen fühlen den Profit auf jedem Gebiet.

Mit unserer Unabhängigkeit und Souveränität über Palästina werden wir zusammen mit den Israelis in der Lage sein, eine grosse Wende in der Region zu erreichen. Die Israelis sollten nach ihrer Zukunft schauen, echten Frieden mit den Palästinensern zu haben. Sie und wir sind fähig, diese Wende zu schaffen.

Wird der zukünftige palästinensische Staat eng mit Israel zusammenarbeiten?

Das sollte so sein! Wir sollten eine friedvolle Lösung finden und anfangen, Brücken des Vertrauens und der Kooperation zu bauen. Der einzige Weg für Israels Sicherheit, ist unsere Sicherheit. Wir sind nicht die stärksten, aber keiner weiss, was mit den Israelis wird. Die Angriffe auf Gaza und den Libanon haben die Hamas und die Hisbollah gestärkt. Hochentwickelte Waffen sind nicht die Lösung.

Meine Führung hat einen grossen Fehler gemacht, dass wir nicht nach einem rechtlichen Weg für die palästinensische Sache gesucht haben. Der Goldstone Bericht zeigte, wie wir vom rechtlichen Weg profitieren könnten, um Verantwortlichkeit und Gerechtigkeit zu sichern.

Was wird die Rolle der PLO im Staat Palästina sein?

Weil wir die Souveränität in unserem Land nicht ausüben konnten, brauchten wir die PLO. Wenn wir die Besatzung beendet und eine palästinensische Regierung ausgerufen haben, die alle Palästinenser im In- und Ausland repräsentiert, dann oder vielleicht später, wird ein Treffen einberufen, dass wir der PLO nicht länger bedürfen. Die Regierung wird alle Verantwortlichkeiten übernehmen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es unser Ziel, die PLO zu behalten. Wer übernimmt Verantwortung für die Flüchtlinge?

Ist die Arabische Liga ein potenzieller Spieler, bei der Versöhnung mit der Hamas zu helfen?

Ägypten ist ein wichtiger Spieler. Hamas befindet sich in einer schwierigen Situation. Die Aufstände in Syrien haben Einfluss auf sie und die Iraner könnten ihre Position ändern, was ihre Interessen angeht. Ein ironisches Problem in dieser Region ist, dass beide, Israel und die arabischen Nationen, Schwierigkeiten haben, die Wirklichkeit um sie herum zu erkennen.

In zehn Jahren wird es eine andere arabische Welt geben. Die Menschen entdecken gerade den Weg. Die Demonstrationen haben die Angst gebrochen. Israel wird zum totalitärsten und diktatorischen Regime in der Region. Die palästinensische Verfassung wird sich in der Arabischen Liga widerspiegeln, in der ganzen Region.

Also wird der palästinensische Staat ein Licht sein für die anderen arabischen Staaten?

Ja. Was in Tunesien und Ägypten begann, haben wir bereits vor 60 Jahren angefangen, mit Demonstrationen in den Dörfern und den Strassen, nach dem Freitagsgebet. Mustafa Jalil [Vorsitzender des Nationalen Übergangrates in Libyen] sagte, dass Libyen viel vom palästinensischen Widerstand gegen die Besatzung gelernt habe, ihre Art für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.

Eine Herausforderung könnte sein, dass im Entwurf ihrer Verfassung Jerusalem, nicht nur Ost-Jerusalem, als Hauptstadt genannt wird?

Politisch gibt es keine Lösung der palästinensischen Sache ohne Ost-Jerusalem. Wir sind bereit für eine internationale Kontrolle über Jerusalem, gemäss UN-Resolution 181. Diese Stadt sollte für alle Religionen sein. Warum sollte man sie Israel geben?

Alternativ zu Ost-Jerusalem als Hauptstadt wäre also eine international Kontrolle der gesamten Stadt?

Oder eine Hauptstadt für zwei Staaten! Das ist ein einzigartiges Model. Oder Ost-Jerusalem für die Palästinenser, den Westen für die Israelis und offene Türen und Wege zu den heiligen Stätten für alle Religionen aus der ganzen Welt, nicht nur aus Palästina und Israel. Der einzige Weg ist, ein Abkommen bezüglich der internationalen Kontrolle zu erlangen. Wir sind dazu bereit, weil wir praktisch sind. Unser Ansatz ist positiv, konstruktiv, weil wir das ursprüngliche Volk in Palästina sind. Die anderen sind Neuankömmlinge.

Warum fällt es Präsident Abbas so schwer, Israel als jüdischen Staat anzuerkennen?

Es leben 1.3 Millionen Palästinenser innerhalb Israels leben, sowohl Muslims als auch Christen. Wenn wir Israel als jüdischen Staat akzeptierten, könnte Lieberman [israelischer Aussenminister] ein juristisches Argument anbringen, die Palästinenser zu transferieren, da Israel nur für die Juden ist. Das ist die Angst. Wer kann garantieren, dass wir keiner neuen Katastrophe für 1.3 Millionen in Israel entgegensehen? Netanjahu [israelische Ministerpräsident] stellt das als Vorbedingung, obwohl er weiss, dass es für uns sehr schwierig ist zu akzeptieren, und verhindert jeglichen wahren Fortschritt.

Andere Regierungen ins Israel haben doch in der Vergangenheit viele Rechte zugestanden, wie beispielsweise Ost-Jerusalem an Arafat , doch das wurde abgelehnt.

Das Maximum, dem wir zugestimmt haben, war nicht zur Zeit des verstorbenen Präsidenten Arafat, sondern zur Zeit Präsident Abbas und Olmert. Als Olmert aber seine Macht verlor, erhielten wir diesen Ideologen Netanjahu.

Wie sieht es mit der PLO-Charta und der Anerkennung Israels aus?

Mit der Unterzeichnung von Oslo haben wir Israel anerkannt. Wenn die Israelis klar denken würden, würden sie zum ersten Mal die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft ihrer Grenzen von 1967 erhalten. Unsere Anerkennung bedeutet eine indirekte Anerkennung aller muslimischen und arabischen Länder Israels auf Grundlage der Grenzen von 1967. Es ist nicht nur eine Anerkennung für uns.

Wie wird Palästina in zehn Jahren aussehen, was ist Ihre Vision?

Ich glaube, dass Sie Palästina in zehn Jahren anders vorfinden werden, aber die Veränderung hat bereits begonnen. Palästinenser aus der ganzen Welt werden ihr Land als Neuland vorfinden, um dort zu entwickeln und zu investieren. Palästina wird eine wahre Demokratie sein, das sich positiv auf die umliegenden Länder auswirken wird.

Wir glauben, dass diese Besatzung durch Verhandlungen beendet werden sollte; mit Hilfe des juristischen Weges, und der UN und der internationalen Gemeinschaft, werden wir eine friedvolle Übereinkunft erreichen. Vielleicht ohne die jetzige Regierung. Ich glaube nicht, dass Netanjahu dazu fähig ist. Aber wir werden nicht gegen die Israelis kämpfen.

Wir kennen das Maximum und das Minimum. Sie werden weder eine palästinensische noch eine israelische Führung finden, die mehr oder weniger als die Genfer Initiative akzeptieren kann. Vielleicht einen Zentimeter hier oder da.

Wenn wir zu einer friedlichen Lösung finden, werden wir in indirekter Weise all die Extremisten bekämpfen, weil sie die palästinensische Sache für sich ausnutzen.

Vielen Dank für das Gespräch.