Europa: Angriffe auf jüdische Bräuche

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In Europa haben in letzter Zeit Angriffe auf jüdische religiöse Bräuche zugenommen.

So bezeichnete die Königliche Niederländische Ärztevereinigung im letzten Monat die männliche Beschneidung als „ein schmerzhaftes und schädigendes Ritual“ und rief zu einer öffentlichen Kampagne dagegen auf. Ein Verbot verlangte die Vereinigung allerdings nicht, aus Sorge, diese Praxis könne in den Untergrund abtauchen.[1]

Einige Wochen zuvor hatte der norwegische Bürgerbeauftragte für Kinder das Verbot der männlichen Beschneidung für Kinder unter 15 oder 16 Jahren beantragt; [2] er ist in Norwegen für die Einhaltung von Kinderrechten zuständig. Zum ersten Mal ist ein Verbot damit von offizieller Stelle beantragt worden. Frühere Debatten kreisten um Gesundheits- und Hygieneaspekte rund um die Beschneidung, und im April hatte das Gesundheitsministerium beantragt, sie nur unter Aufsicht eines Arztes oder einer Pflegeperson zu vollziehen.[3] Dieser Antrag liegt dem Parlament vor, wurde aber noch nicht debattiert.

Auch in Dänemark wird die Beschneidung immer wieder öffentlich thematisiert. [4] Dänemarks Oberrabbiner Bent Lexner äusserte sich dazu: „Wenn das Gesetz zum Verbot der Beschneidung je verabschiedet werden sollte, müssten Juden den Ort verlassen, an dem sie über Hunderte von Jahren gelebt haben.”[5]

In den USA sieht es ganz anders aus. Anfang dieses Monats wurde im Bundesstaat Kalifornien ein Gesetz erlassen, das es für Regionalregierungen unmöglich macht, die männliche Beschneidung zu untersagen. Das Gesetz sollte „die Rechte und Freiheiten von Eltern“ schützen, nachdem es in San Francisco und Santa Monica Versuche gegeben hatte, ein Referendum zum Verbot der Beschneidung in Gang zu setzen.[6]

Die Beschneidung ist nur eins von vielen Ritualen, die in die Kritik geraten sind. Im ersten Halbjahr 2011 wurde in den Niederlanden eine intensive Debatte zur religiösen Schächtung von Tieren ohne Betäubung geführt. Internationale jüdische Organisationen übten heftige Kritik an den Niederlanden: Die Zweite Kammer des niederländischen Parlaments hat im Juni dieses Jahres das zivilrechtliche Verbot der religiösen Schächtung ohne Betäubung mit grosser Mehrheit angenommen; in den nächsten Monaten wird es dem Senat zur Annahme vorgelegt. In der Schweiz, in Norwegen und Schweden ist die Schächtung ohne Betäubung bereits seit vielen Jahrzehnten verboten. Als Hauptmotiv dieser drei Verbote muss Antisemitismus angenommen werden.

In den Niederlanden kam es überdies gelegentlich zu verbalen Attacken auf religiöse Schulen. Henri Markens, der ehemalige Vorsitzender der Dachorganisation der niederländischen Juden CJO, sagte: „Ich schliesse nicht aus, dass es in Zukunft politische Versuche geben wird, religiöse Schulen abzuschaffen oder zumindest mit grossen Beschränkungen belegen.”[7]

In Grossbritannien urteilte das Oberste Gericht 2009, dass die jüdische Free School in London gegen das Antirassismusgesetz 1976 verstossen habe, weil sie sich weigerte, einen Jungen aufzunehmen, der unter Aufsicht der Konservativen Bewegung zum Judentum konvertiert war. Die Anzahl der Bewerber an dieser Schule ist höher als die zur Verfügung stehenden Plätze, und die Schule zog halachische Juden vor.[8]

In 2009 verhinderte ein Referendum in der Schweiz den Bau weiterer Minarette, was zur Forderung von Beschränkungen weiterer religiöser Bräuche führte. Auf herkömmlichen Friedhöfen werden Grabstellen nach einer bestimmten Zeit ausgeräumt. Jüdische und muslimische Gräber jedoch sind für die Ewigkeit bestimmt. Kurz nach dem Referendum sprach sich Christophe Darbellay, der Vorsitzende der CVP, für ein Verbot neuer muslimischer und jüdischer Friedhöfe aus. Nach vielen Protesten, auch innerhalb seiner eigenen Partei, entschuldigte er sich für diese Aussage.[9]

Aus verschiedenen Richtungen kommend und mit unterschiedlichen Begründungen versehen, haben diese Angriffe ein gemeinsames Motiv. Im  fremdenfeindlichen Europa wird alles Muslimische von vielen Menschen als negativ betrachtet. Angriffe aus bestimmten muslimischen Kreisen und Verstösse gegen Bestimmungen zur Beschneidung und rituellen Schächtung haben diese negative Sicht verstärkt. In einigen Ländern erfüllen muslimische Schulen nicht die nationalen Anforderungen. Ein zunehmend intoleranter Säkularismus in Europa trägt das Seinige dazu bei.

Es kann bezweifelt werden, dass es ohne die grosse muslimische Einwanderungswelle nach Europa zu diesen Verboten religiöser Rituale gekommen wäre. Juden sind kaum die Hauptziele der Angriffe, obwohl antisemitische Motive in der niederländischen Debatte ums rituelle Schächten aufkamen. Doch wo der Islam viele jüdische Bräuche mit Änderungen adaptiert hat, werden auch Juden Opfer dieser allgemeinen Entwicklung. Es ist ein Fehler, diese Fälle nur als warnende Einzelfälle zu betrachten. Sie sind vielmehr Hinweise darauf, dass der unbequeme Status der jüdischen Gemeinden  – die seit Jahrhunderten in Europa leben – aufs Neue immer mehr in die Aussenseiterposition gebracht wird.

Dr. Manfred Gerstenfeld hat mehr als zwanzig Bücher veröffentlicht, einige davon zum Thema Antisemitismus und Antiisraelismus.


[1] “Oproep artsen tegen jongensbesnijdenis,” Trouw., 14  September 2011.

[2] “Innfør aldersgrense på omskjæring av gutter,” Ombudsman for Children Homepage,  2 september 2011 [Norwegian].  www.barneombudet.no/omskjaringavgutter/

[3] ”Foreslår lovregulering av rituell omskjæring,” Regjeringen, Helse – OG Omsorgsdepartementet, 26 April 2011. [Norwegian] http:/regjeringen.no/nb/dep/hod/aktuelt/nyheter/2011/foreslar-lovregulering-av-rituell-omskja.html?id=641198

[4] “Denmark: Proposal to ban child circumcision,” EuropeNews, 19 November 2008.

[5] Yigal Rom, “Child circumcision to be banned in Denmark?” ynetnews.com, 20 November 2008.

[6] Anthony York, “44 Bills Signed into Law by Brown,” Los Angeles Times, 3 October 2011.

[7] Manfred Gerstenfeld, interview with Henri Markens, “Insights into the Situation of the Jews in the Netherlands,” Changing Jewish Communities 50, 15 November 2009.

[8] Leslie Wagner, “Yet another defect in UK law,” Jerusalem Post, 16 December 2009.

[9] ”Israelitischer Gemeindebund fordert von CVP weitere Schritte,” NZZ Online, 6 December 2009. [German]

2 Kommentare

  1. Na klar, die Muslime sind schuld, wenn die Beschneidung von Babys in Europa verboten wird!? Also Herr Gerstenfeld, das ist ein Schuß von hinten durch die Brust ins Auge!

  2. Keine Religion der Welt soll Menschenrechte verletzen dürfen! Einem Neugeborenen die Vorhaut abzuschneiden ist schwere Körperverletzung, ähnlich wie weibliche Genitalverstümmelung, und durch keinen Brauch, keine Tradition, keine Religion zu rechtfertigen! Weibliche Beschneidung war noch bis in die neunziger Jahre in den USA erlaubt und wurde bis in die späten siebziger Jahre von der Krankenkasser bezahlt! Und sie wurde GENAU so begründet wie heute noch männliche Genitalverstümmelung. Mit pseudowissenschaftlichen Studien wurde ein Zusammenhang zu HIV, Epilepsie, Depression, überbordender Emotionalität etc. hergestellt. Dabei liegt der Beschneidung von Babies nur eines zugrunde: Gesellschaftliche Sexualfeindlichkeit.
    Kritik an Beschneidung als Antisemitismus zu sehen, ist lächerlich. Warum eigentlich nicht als "Islamophobie"? Im Islam wird mindestens genau so oft beschnitten wie im Judentum…

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