Libyen nach Gaddafi und die Islamisten

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Mustafa Abd al-Dschalil

Den Vereinigten Staaten und der militärischen Intervention des Westens in Libyen ist es letztlich gelungen, die 42 Jahre dauernde Herrschaft Gaddafis in Libyen zu stürzen. In welche Richtung wird sich Libyen nun wohl entwickeln?

Es gibt viele Gründe zu befürchten, dass die vom Westen durchgeführte Militäraktion gerade seinen ideologischen Feinden in die Hände spielen könnte. Die zwei vorhergehenden Interventionen Amerikas in Afghanistan und im Irak haben keine stabilen, demokratischen Regierungsformen hervorgebracht.

Den Rebellen gegen Gaddafi haben nach Berichten Teile von al-Qaida von Anfang an ihre Unterstützung angeboten, ebenso wie die Hisbollah und die Hamas. Die einmütige Unterstützung extremer und fundamentalistischer islamischer Organisationen für die Rebellen lässt ein Einvernehmen im Hinblick auf mögliche islamische Konsequenzen des Triumphs gegen Gaddafi erkennen.

Unter den Gegnern der Herrschaft Gaddafis haben Analysten, Reporter und Diplomaten Unterstützer islamistischer Anliegen ausgemacht, besonders in der östlichen Provinz Cyrenaica; diese Region ist für einen extremen Islam und als Entstehungsort des islamischen fundamentalistischen Sanussiya-Ordens bekannt. Die Rebellen in der Stadt Darna in der Provinz Cyrenaica wurden von einer al-Qaida-Zelle angeführt; unter Gaddafi wurde die wachsende libysche islamistische Dschihad-Bewegung, vor allem die Libysche Islamische Kampfgruppe (LIFG), staatlicherseits unterdrückt. Im März 2011 erklärten Mitglieder der LIFG, dass sie sich unter die Führung des Nationalen Übergangsrates NTC stellten.

Im Irak waren unter den Kämpfern gegen die amerikanische Präsenz auch Libyer, wie Studien und Wikileaks-Depeschen zeigen, und einige der Befehlshaber libyscher Rebellentruppen kämpften zuvor in Afghanistan gegen die Sowjetunion. Rebellenführer Abdel-Hakim al-Hasidi nennt einige dieser Dschihadisten als Teilnehmer im Kampf  gegen Gaddafi. Als derzeitiges Mitglied des NTC beharrt al-Hasidi darauf, dass seine Kämpfer „Patrioten und gute Muslime, keine Terroristen“ sind, genau wie die „Mitglieder von al-Qaida“.

Nun, da Gaddafi, dessen Geheimdienst, Terrorismusbekämpfung und Sicherheitskräfte mit dem amerikanischen und britischen Geheimdienst zusammenarbeiteten, fort ist, braucht der Westen einen neuen Partner im Kampf gegen al-Qaida. Das Hauptanliegen ist die Suche nach libyschen Raketen. Quellen in den Vereinigten Staaten, dem Tschad und Mali zufolge hat al-Qaida Arsenale in der von den Rebellen kontrollierten Zone Libyens geplündert. Das interinstitutionelle Team der Vereinigten Staaten strebt hinsichtlich der Kontrolle der Waffen eine enge Zusammenarbeit mit den Nachbarn Libyens und dem NTC an. Diesem gilt Aussenministerin Hillary Clintons besondere Aufmerksamkeit: „Wir werden uns darum kümmern, ihn davon zu überzeugen, dass er einen soliden Standpunkt gegen gewalttätigen Extremismus einnimmt“, sagte sie.

Clintons Besorgnis ist berechtigt. Der NTC setzt sich unter anderem aus Royalisten, früheren Anhängern Gaddafis, Islamisten, Salafisten und einigen wenigen Demokraten zusammen, und es gibt keinen wirklichen Kitt, der diese ungleichen Gruppen zusammenhalten würde. Das Ziel des NTC ist, übergangsweise politische und militärische Führerschaft zu erringen. Sein im August veröffentlichter Verfassungsentwurf legte den Plan dar, eine Mehrparteiendemokratie mit islamischem Recht (Scharia) als Hauptquelle der Gesetzgebung zu schaffen; das würde einen deutlichen Wandel in Libyen bedeuten. Ob aber der Übergangsrat die politische Gestaltung eines Landes mit einer nur unbedeutenden Zivilgesellschaft und ohne wirkliche politische Institutionen erfolgreich übernehmen kann, ist unklar. Im Moment scheint der NTC eher chaotisch, und unklar ist, wen seine widersprüchliche Führung repräsentiert.

Im Juli wurde ein Attentat gegen den Oberbefehlshaber der Rebellen, General Abd al-Fattah Yunis, einen ehemals engen Gefährten Gaddafis, verübt – mutmasslich von Mitgliedern einer mit dem NTC verbündeten islamistischen Splittergruppe; das hat Ängste heraufbeschworen, der NTC könne zu schwach und zersplittert sein, um ein Abgleiten in Blutvergiessen zu verhindern, wenn rivalisierende Fraktionen inklusive der Islamisten um die Macht konkurrieren. Die Führungsfigur des NTC, Mustafa Abd al-Dschalil, ein konservativer und strenggläubiger Muslim, der sein Amt als Justizminister niederlegte, um sich dem Lager der Rebellen anzuschliessen, wird als offen und kooperativ beschreiben, aber auch als antiisraelisch. Seiner Meinung nach hat sich der islamische Terrorismus entwickelt, weil viele Muslime glaubten, die Vereinigten Staaten und Europa seien gegen sie. Abd al-Dschalil war es auch, der die bulgarischen Krankenschwestern und den palästinensischen Arzt, die beschuldigt wurden, absichtlich libysche Kinder mit AIDS infiziert zu haben, zum Tode verurteilte. Wird er sich als integrativer Anführer erweisen? Gaddafis Libyen mangelte es an staatlichen Institutionen, die den Übergang vereinfachen könnten, was seine Aufgabe um so viel schwieriger macht. Ethnische und Stammesrivalitäten bedrohen die Einheit und Wirkungskraft der Rebellen; die Loyalität der Kämpfer gilt eher ihren Dörfern als dem Land in seiner Gesamtheit. Ferner wird Abd al-Dschalil aufgrund seiner früheren engen Bindungen zu Gaddafi von einigen noch immer mit einem gewissen Argwohn betrachtet; das wird den Versuch, eine effektive Führung zu etablieren, eher untergraben.

Wenn Hardliner sich durchsetzen, könnte es in Libyen zum gleichen Fehler kommen, wie er im Irak nach dem Feldzug der Vereinigten Staaten im Jahr 2003 und dem Sturz Saddam Husseins gemacht wurde. Die Anhänger von Husseins Baath-Partei und Armeeoffiziere wurden dort fast alle eliminiert; das führte zu einem Machtvakuum und einer dauerhaften Instabilität. Ein Hinweis darauf, was in Libyen bevorstehen könnte, ist die steigende Zahl an Rebellen, die sich lange Bärte wachsen lassen; sie sind das Markenzeichen von Islamisten, die enge Beziehungen mit dem Westen in der Nach-Gaddafi-Ära wohl eher zurückweisen werden.

Jacques Neriah, Jerusalem Center for Public Affairs

Kurzversion der Originalfassung: The Islamist Factor in Post-Gaddafi Libya – Will Libya become Libystan? by Jacques Neriah, Jerusalem Center for Public Affairs, August 29, 2011