Ägypten nach der Revolution

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Demokratie kann dick machen: von Abends bis Morgens hetzen sich Ägyptens Präsidentschaftskandidaten im Fastenmonat Ramadan von Iftar, dem Abendmahl nach dem Fasten, zu Suhur, dem Frühstück vor Beginn der langen Sommertage des Schmachtens. Unermüdlich schütteln sie Hände, lächeln und verkünden patriotische Parolen. Erstmals kandidiert sogar eine Frau um das höchste Amt. Sechs Monate nach dem Sturz Hosni Mubaraks ist aus der Diktatur scheinbar eine blühende Demokratie geworden. Aus dem Einparteiensystem soll ein pluralistischer Staat werden. Bis zu 100 Parteien werden im Herbst um 504 Parlamentssitze ringen. Doch für die Bürger auf der Strasse ist vieles schlechter geworden.

Ägypten droht die Pleite. Touristen –die wichtigste Devisenquelle – bleiben dem Land weiter fern. Laut manchen Schätzungen hat Ägypten seit Januar insgesamt 88 Milliarden US$ Einnahmen verloren. Die Wirtschaft wird in diesem Jahr voraussichtlich um 3,3% schrumpfen. Der Oberste Rat der Armee (ORA), der das Land seit dem Sturz Mubaraks verwaltet, erschöpft die Devisenreserven, um staatliche Subventionen zu finanzieren. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 12%, bei Jugendlichen laut manchen Experten bei 42,8%.

Ein Grund für die Misere der Wirtschaft ist das Sicherheitschaos. Die Revolution zerschlug die Polizei – Symbol des Mubarakregimes. Rund 39% der Ägypter fürchten sich jetzt nachts allein durch die Strassen zu gehen, fand Gallup. In den Städten habe ein „Wettrüsten“ begonnen, schrieb die Tageszeitung „Al Masri al Youm“. Menschen wollen wehrhaft sein. Maschinengewehre sind teuer, deswegen ziehen die Ägypter „Fards“ (selbstgebastelte Handfeuerwaffen) vor. Die sind für rund 100 Euro zu haben. Kaum jemand folgte dem Aufruf des ORA, seine Waffe abzugeben: „Ohne mein Gewehr lade ich doch die Menschen nur dazu ein, mich auszurauben“, sagte ein Händler.

Dieser Anarchie begegnet das Militär mit eiserner Hand. Doch das ORA setzt seine Vollmachten nicht nur gegen Kriminelle, sondern auch gegen politische Gegner ein. Prominente Blogger wie Amr al Bahairi, der zum Sturz Mubaraks beigetragen hatte und nun die Militärs kritisierte, wurden mit der absurden Anschuldigungen „rücksichtlosen Vorgehens“ verhaftet und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Aktivisten berichten von Misshandlung, Folter und Einschüchterungstaktiken der Militärs. Rund 12.000 Zivilisten sollen von Militärtribunalen abgerichtet worden sein und erhielten zum Teil drakonische Strafen, gegen die kein Einspruch eingelegt werden kann.

Muhammad Al Baradei

Der ORA leitet keine drastischen Schritte ein, um die dringlichen Probleme anzugehen: Nur eine gewählte Volksversammlung besässe dafür ein Mandat, heisst es. Doch nach der Revolution herrscht Unklarheit. Selbst prominente Präsidentschaftskandidaten wie Muhammad al Baradei behaupten sie hätten „kaum Kontakt“ zum ORA. Er wisse nicht, wie das neue Regierungssystem aussehen soll und wie viel Macht in Händen des Präsidenten läge. „Wie kann ich mir für einen Posten bewerben, wenn ich die Jobbeschreibung nicht kenne?“, sagte Baradei einem US-Diplomaten. Es bleibt unbekannt, wann ein neuer Präsident gewählt werden soll. Den Parteien geht es da besser: Die Parlamentswahlen sollen im November abgehalten werden.

Doch selbst eingefleischte Demokraten sehen diesen Wahlen mit wachsender Sorge entgegen. Sie fürchten, dass Islamisten die Revolution kapern und Ägypten zum Gottesstaat machen wollen. Nachdem die ehemalige Regierungspartei NDP verboten wurde, gilt die Muslimbruderschaft (MB) und ihr politischer Arm, die „Partei der Freiheit und Gerechtigkeit“ (FJP) als grösste, am besten finanzierte und organisierte aller Parteien. In Meinungsumfragen erhält sie ein Drittel der Stimmen. Gemeinsam mit den 28 islamistischen Bewegungen der neuen „Demokratische Koalition“ würden die MB laut Umfragen eine absolute Mehrheit erringen. Als Gegengewicht gründeten 15 säkulare und gemässigte islamische Gruppierungen jetzt den „Ägyptischen Block“.

Doch die öffentliche Meinung ist auf Seiten der Islamisten. Laut einer neuen Studie der Al Ahram Universität sagten rund die Hälfte der Landbewohner, sie betrachteten Saudi Arabien als Modellstaat der nachgeahmt werden sollte. Kein Wunder also, dass die Islamisten immer mehr Einfluss auf die Gesellschaft ausüben wollen. Trotz der Besucherzahlen forderte Muhammad al Katatni, stellvertretender Vorsitzender der FJP, von „Strandtouristen künftig die Normen unserer Gesellschaft zu beachten“ – am Roten Meer soll es keine Bikinis oder Drinks geben. Das hat auch schlechte Folgen für Frauenrechte. Im neuen Kabinett sitzt nur eine Frau. Die „schlechte Sicherheitslage“ verhindere augenblicklich, Frauen zu hohen Posten zu benennen, sagte dazu der Minister für Entwicklung Mohsen al Nomani. Islamisten wollen nun Errungenschaften wie das Recht von Frauen auf Scheidung (erst im Jahr 2000 eingeführt) oder das Sorgerecht für Kinder rückgängig machen. Die gelten den Islamisten als „wider die Scharia“, als westliche „Diktate“. „Seit der Revolution hat sich der Status der Frauen dramatisch verschlechtert“, sagt die Journalistin Karina Kamal.

Um den Vormarsch der Islamisten aufzuhalten, ruft eine Koalition von Liberalen, Säkularen und Christen den ORA zu Hilfe. Der soll Richtlinien veröffentlichen, die nach den Wahlen der Verfassung liberale, demokratische Prinzipien aufzwingen sollen, um die Diktatur der Islamisten zu verhindern, selbst wenn sie in Wahlen die absolute Mehrheit erringen. Diese sehen diesen Ansatz als anti-demokratisch und verweisen darauf, dass 77% der Ägypter im März in einem demokratischen Referendum das neue Parlament mit dem Schreiben einer neuen Verfassung beauftragten. Sie hätten sich damit eindeutig gegen vorher niedergelegte Richtlinien ausgesprochen.

Unterstützer der Muslimbruderschaft auf dem Tahrir-Platz

Nach dem Ramadan werden diese Kräfte mit voller Wucht aufeinanderprallen. Die Islamisten warnten die Regierung davor, bindende Klauseln niederzulegen. Am 29. Juli mobilisierten sie auf dem Tahrir Platz in Kairo in der grössten Demonstration seit dem Sturz Mubaraks Hunderttausende für den islamischen Staat. „Weder säkular noch liberal!“, skandierten die bärtigen Massen, die viele junge Facebookrevolutionäre entmutigten. „Die Scharia steht über der Verfassung!“ und „Wir wollen Gottes Gesetze!“ stand auf ihren Bannern.

Noch vor sechs Monaten wäre eine solche Kundgebung undenkbar gewesen. Nach dem Sturz Mubaraks hat sich vieles im Land am Nil verändert. Ob das Land damit aber tatsächlich Wohlstand, Demokratie und Freiheit näher gekommen ist, wird erst die Zukunft zeigen.

 

Gil Yaron, Tel Aviv